Die Jesiden

Name und Herkunft, Bevölkerung und Geographie

Die Jesiden sind eine Religionsgemeinschaft, deren ursprüngliche Heimatländer im Nahen und Mittleren Osten waren. Ihr Name folgt keiner einheitlichen Schreibweise, sondern es gibt verschiedene Möglichkeiten der Schreibung, die von Jesiden über Eziden bis hin zu Yeziden reicht. Die jesidische Selbstbezeichnung aus dem Kurdischen kommend lautet Êzîdî/Ezda/Ezdayî („Schöpfer“) und weist einen Gottesbezug auf.

Hauptsiedlungsgebiet der Jesiden ist im Nordirak, insbesondere um die Gebiete Sindschar und Sheikhan. In der dort gelegenen Stadt Lalisch befindet sich auch das Hauptheiligtum der Jesiden. Außer den Jesiden im Irak gibt es nennenswerte Anhäufungen in Syrien, Iran, Armenien und Georgien. In der Türkei gibt es kaum noch Jesiden. Vielmehr sind inzwischen auch insbesondere in Deutschland viele Jesiden anzutreffen.

Die Mehrheit der Jesiden spricht Kurmandschi, ein Dialekt des Kurdischen (s. Artikel zu kurdischen Dialekten). Großenteils definieren Jesiden sich selbst als Kurden.

Religion und Theologie

Das Jesidentum ist eine monotheistische Religion, in der aber auch Elemente der Engelverehrung enthalten sind. An erster Stelle steht die Anerkennung Gottes (Êzîd) als dem Schöpfer. Gott wird durch die Sonne symbolisiert, weswegen diese den Jesiden heilig ist. Gott hat nach jesidischer Vorstellung die sieben Hauptengel geschaffen, an erster Stelle Melek Taus. Die Engel sind aus dem Licht Gottes hervorgegangen. Melek Taus („Engel Pfau“) wird als Oberster der Engel verehrt. Er gilt als Stellvertreter Gottes auf Erden, der Gottes Plan und Werk ausführt. Bei Sheikh Adi handelt es sich um eine bedeutende Person des Jesidentums. Ursprünglich war er Sufi. Er wird als Inkarnation von Melek Taus angesehen und dementsprechend gewürdigt. Jesiden verstehen sich selbst als Kinder Adams, aber – im Gegensatz zum Rest der Menschheit – nicht als Nachkommen Evas.

Im Jesidentum gibt keine Vorstellung von Paradies oder Hölle, ebenso wenig der Glaube an einen Teufel. Vielmehr glauben Jesiden an die Reinkarnation (Wiedergeburt) sowie an die Seelenwanderung.

Das Jesidentum basiert auf einer weitestgehend oralen religiösen Praxis und Tradition. Die religiösen Inhalte werden mündlich überliefert, bspw. über Lieder und Gebete. Nicht zuletzt deswegen werden Jesiden von Muslimen nicht als Leute der Schrift (Ahl al-Kitab) anerkannt. Im Jesidentum gibt es also keine verbindliche religiöse Schrift wie die Bibel bei Christen oder der Koran unter Muslimen. Allerdings existieren heilige Schriften, wie das Buch der Offenbarung (Kitab al-Djilwa) oder das Schwarze Buch (Mashafa Resh). Das Jesidentum ist keine missionarische Religion. Konversion ist nicht möglich, sondern Jeside ist man durch seine Geburt.

Jesiden sind aus muslimischer Sicht Ungläubige, Abtrünnige und Teufelsanbeter. Aus dieser Anschauung heraus werden die Verfolgungen von Jesiden durch Muslime begründet. Das Verhältnis von Jesiden zum Islam ist sehr gespannt.

Die Grundpflichten für jeden Jesiden bestehen in der Anerkennung des einen Gottes, der religiösen Betreuung durch einen Sheikh sowie durch einen Pîr. Außerdem sollte jeder Jeside mindestens einmal im Leben eine Pilgerfahrt nach Lalisch gemacht haben. Dies ist vergleichbar mit der Säule im Islam, die die Pilgerfahrt nach Mekka vorschreibt. Des Weiteren soll ein Jeside in Verbindung mit einem/-r Jenseitsbruder/-schwester stehen (s.u.).

Geschichte

Die Wurzeln der jesidischen Religion reichen bis weit vor Christus zurück. Inzwischen sind in der Religion auch Elemente aus anderen Religionen, wie z.B. die Beschneidung enthalten.

Die jesidische Geschichte ist von Verfolgung geprägt. Es gab kaum eine Zeit, in der die Jesiden nicht unter einem enormen Druck von außen standen. Die Konflikte reichen von arabisch-kurdischen Auseinandersetzungen über das Armenien-Massaker im 19. und Zwangsumsiedlungen und Zwangsislamisierungen im 20. Jahrhundert bis hin zu dem Völkermord durch den Islamischen Staat im 21. Jahrhundert. Durch ihr Dasein als verfolgte Minderheit spielt das Konzept der religiösen Geheimhaltung (Taqiyya) unter Jesiden eine wichtige Rolle. Taqiyya ist eine Methode der Verbergung der religiösen und ethnischen Identität, um sich selbst zu schützen. Die vielfache Erfahrung religiöser, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entrechtung und Vertreibung von Jesiden hat zu zahlreichen Migrationsbewegungen geführt. Ihre Verfolgungsgeschichte hat die Jesiden in ihrem religiösen Leben und Selbstverständnis stark geprägt.

Im 11./12. Jahrhundert trat Sheikh Adi ben Musafir als Reformer der jesidischen Religion und Gemeinschaft auf. Er führte Hymnen und Schriften ein sowie die Einteilung der jesidischen Gemeinschaft in ein Kastensystem. Sheikh Adi ist in Lalisch begraben, wo sich heute das Hauptheiligtum der Jesiden befindet.

Gesellschaftliche Organisation

Die jesidische Gesellschaft wurde durch Reformator Sheikh Adi in drei Kasten eingeteilt. Die Sheikhs und Pîrs stellen die beiden geistlichen bzw. Priesterkasten, während die Muriden die Laienkaste bilden. Der Wechsel von einem in die andere Kaste ist nicht möglich. Außerdem darf nur innerhalb der eigenen Kaste geheiratet werden. Es besteht also ein Endogamiegebot nach innen und nach außen. Demnach ist es einem Jesiden auch nicht erlaubt, einen Nicht-Jesiden zu heiraten. Die Geistlichen, d.h. die Sheikhs und die Pîrs sind für die Unterweisung der Laien sowie die Durchführung religiöser Zeremonien zuständig. Aufgabe der Laien wiederum ist es, die Geistlichen durch Spenden materiell zu unterstützen.

Der Mîr oder auch jesidischer Prinz genannt stellt das weltliche Oberhaupt der Jesiden dar. Er wird durch Baba Sheikh eingesetzt und repräsentiert Sheikh Adi und Taus Melek auf Erden. Baba Sheikh („Vater Sheikh“) ist das geistliche Oberhaupt der jesidischen Gemeinschaft. Er steht an der Spitze der Sheikh-Kaste. Er ist dem Mîr in weltlichen wie spirituellen Angelegenheiten untergeordnet. Einmal im Jahr besucht der Baba Sheikh alle jesidischen Städte, um dort religiöse Zeremonien durchzuführen.

Jede Sheikh- und jede Pîr-Familie verfügt über spezielle Heilungsfähigkeiten. Überdies haben die Sheikhs und Pîrs eine begleitende und beratende Funktion für jesidische Familien inne.

Außerhalb der drei Kasten gibt es noch die Gruppe der Mystiker. Diese können aus jeder Kaste kommen. Die Mystiker können in Qewals, Feqirs und Kocheks unterteilt werden. Bei den Qewals handelt es sich um Barden und Sänger, die die Weitergabe des religiösen Wissens garantieren. Das Amt des Qewals wird von Vater zu Sohn weitergegeben. Feqirs üben ihren Dienst für Gott in Armut aus. Sie sind mit Derwishen vergleichbar. Sie stammen direkt von Sheikh Adi ab. Die Kocheks (bzw. Faqras als weibliches Äquivalent) dienen am Heiligtum in Lalisch. Sie besitzen übernatürliche Fähigkeiten wie Hellseherei oder Heilungskraft.

Kultur, Feste und Riten

Jesiden feiern am ersten Mittwoch im April („roten Mittwoch“) ihr Neujahrsfest (Newroz). Das Fest erinnert an die Einsetzung Melek Taus‘ auf der Erde als Herr über Leben und Tod. Der Tag wird u.a. mit einer Sandschak-Parade gefeiert. Dabei werden bronzene Darstellungen von Melek Taus, die sogenannten Sandschaks, durch jesidische Städte gereicht und in Zeremonien eingebaut.

Im Februar wird ein Opferfest begangen. In Erinnerung an die Geschichte Abrahams wird ein Schaf geopfert. Beim Herbstfest im Oktober wird die Ankunft des Herbstes feierlich begangen. Im Dezember findet das Fest zur Sonnwende statt. Dieses Fest ist dahingehend zentral, dass die Jesiden die Sonne als Symbol Gottes verehren.

Bei Jungen wird im Laufe des ersten Lebensjahrs ein ritueller Haarabschnitt durchgeführt. Außerdem ist unter manchen Jesiden auch die Beschneidungspraxis verbreitet.

Eigentlich ist in der jesidischen Religion ein fünfmaliges Gebet täglich vorgesehen. Die Gebetszeiten sind zur Morgendämmerung, zum Sonnenaufgang, zu Mittag, nachmittags und zum Sonnenuntergang angesetzt. Die meisten Jesiden praktizieren jedoch nur zwei bis drei der Gebete. Die Gebete werden mit Blick zur Sonne verrichtet.

Eine spezielle Einrichtung in der jesidischen Gemeinschaft ist das Konzept des Jenseitsbruders bzw. der Jenseitsschwester. Dabei handelt es sich um einen durch den Sheikh bestimmten Partner für das Leben. Dieser fungiert als Beistand im irdischen wie auch im nächsten Leben, v.a. aber im Gericht nach dem Tod. Außer dem Jenseitsbruder hat jeder Jeside einen Pîr, einen Sheikh sowie einen Lehrer als religiöse Bezugspersonen.

Aktuelles

Aufgrund der schwierigen Situation in ihren Heimatländern gibt es viele jesidische Geflüchtete. Ein großer Teil der Jesiden heute lebt in der Diaspora. Sie erleben darin neue Freiheiten, was die Auslebung ihres Glaubens angeht. Das heißt z.B. auch, dass sie keine Taqiyya mehr üben müssen. Vielmehr ist eine aufkommende Bewegung der Sichtbarmachung und öffentlichen Erklärung des jesidischen Glaubens festzustellen. Jesiden wollen mit Veröffentlichungen verschiedenster Art der verbreiteten Vorstellung des Jesidentums als Geheimreligion entgegenwirken.

Durch die Destabilisierung im Nahen Osten leben jesidische, christliche und andere Minderheiten dort weiterhin unter großem Druck. Es gibt kaum wirksamen staatlichen Schutz für diese Gruppen.