Jedes Familienmitglied ist ein Baustein bzw. wichtiges Rädchen im Gefüge, damit alle Bereiche des Lebens abgedeckt sind und funktionieren.

Wir denken leicht: Familie kann jeder, weil sie überall gleich in der Welt funktioniert. Das ist jedoch ganz und gar nicht der Fall. Ich habe selbst einige Jahrzehnte im Orient gelebt und musste umdenken lernen. Hier ist nicht der Ort, an dem ich Familienleben in den verschiedenen Kulturen vergleichend gegenüberstellen kann. Aber ich werde exemplarisch einige Elemente aus dem orientalischen Familienleben herausgreifen, um zu zeigen, wie Familie auch anders “normal” gelebt werden kann. Dabei bin ich mir bewusst, dass es überall und in jeder Familie Ausnahmen und Unterschiede gibt.

Die Feststellung am Anfang des Textes geht in westlichen Familien mehr und mehr verloren, weil Individualismus, Selbstbestimmung und Freiheit als größere Werte angesehen werden als der Zusammenhalt und das gesunde Funktionieren einer Familie, in der jeder gefordert und gefördert, geschützt und unterstützt, gelehrt und korrigiert wird.

 

Feste Rollen

Im Orient ist jeder in eine Großfamilie eingebunden, in der er seine Rolle und Verantwortung hat. Jeder ist für einen anderen verantwortlich und muss ihn schützen. Es gibt eine Art Hierarchie, wobei die Älteren mehr Verantwortung tragen als die Jüngeren. Das Familienoberhaupt ist meistens der Großvater oder dessen Bruder.

Andererseits muss jeder denen, die über ihm stehen, also älter sind oder einen höheren Rang (z.B. durch Beruf und Bildung) erworben haben, Respekt entgegen bringen und sie ehren. Das geschieht in der Regel z.B. durch Gehorsam und Rechenschaft.

Jeder muss seine Rolle im Gefüge kennen und spielen. Mit “jeder” sind Männer und Frauen, Jungen und Mädchen, Alte und Junge gemeint. Je älter ein Familienmitglied ist, desto mehr Verantwortung trägt es für die, die jünger sind als sie. Je jünger ein Familienmitglied ist, desto mehr ist es auf Führung, Rat und Hilfe angewiesen.

Dazu kommt, dass Frauen und Mädchen andere Verantwortungsbereiche haben als Männer und Jungen. Die weiblichen Mitglieder sind hauptsächlich für das häusliche Wohl (Ernährung, Gesundheit, Kindererziehung, Haus und Hof, Ehre der Großfamilie) verantwortlich, wohingegen die männlichen Mitglieder die Familie nach außen hin vertreten (Sicherstellung des Lebensunterhalts, geschäftliche und politische Beziehungen, Umgang mit Behörden, der gute Ruf der Familie in der Öffentlichkeit).

 

Konflikt mit der modernen Welt

In der modernen Welt kommt es hier unweigerlich zu Konflikten, wenn z.B. Mädchen eine Ausbildung anstreben und/oder in Berufe drängen, die eigentlich Männerdomänen sind; oder andererseits, wenn Männer Arbeitsstellen in anderen Städten oder sogar Ländern annehmen, die es nicht mehr zulassen, die Verpflichtungen in der eigenen Großfamilie wahrzunehmen. In solchen Fällen muss die Großfamilie einen Konsens anstreben.

Jeder der bei uns zugezogenen Migranten aus dem Orient ist weiterhin für seinen Teil der Aufgaben in seiner Großfamilie verantwortlich. Die Bindung an die Familie darf nicht gekappt werden, weil der Rückhalt der Familie für sie lebensnotwendig ist. Das macht allerdings Integration im neuen Umfeld sehr schwer, da viele Migranten es nicht gelernt haben, selbständige Entscheidungen zu treffen oder auch anderen Menschen außerhalb der Familie zu vertrauen.

 

Ehre der Familie

Ein anderer, wichtiger Aspekt, was die Rolle jedes Einzelnen betrifft, ist die Ehre der Familie und damit auch des Einzelnen. Es ist wichtiger, dass die Ehrbarkeit eines jeden einzelnen sowie der Klein- bzw. Großfamilie erhalten bleibt, als nach dem Wahrheitsgehalt einer Aussage oder eines Berichtes zu fragen. Die Ehrbarkeit der Familie muss unbedingt gewahrt bleiben.

In unserer Kultur hingegen denken wir eher in den Kategorien wahr und unwahr, Recht und Unrecht.

Die höchste Instanz in einer Familie ist in der Regel das älteste, männliche Familienmitglied, also der (Ur-)Opa väterlicherseits oder dessen Bruder. Er hat das letzte Wort. Er entscheidet in letzter Instanz über Sanktionen oder deren Aufhebung, wenn die Familienehre verletzt wurde.

 

Trost und Trauer

Was bedeutet diese Struktur nun ganz praktisch im alltäglichen Leben? Ich greife einmal die Situation von Krankheit heraus. Eine ernsthafte Erkrankung (alltägliche Infektionskrankheiten zählen in diesem Fall nicht dazu) eines Familienmitgliedes erfordert es, dass man es besucht und Trost zuspricht, zumindest mit ihm telefoniert. Ferner ist es selbstverständlich, dass man Arztkosten und -fahrten sowie Kosten für Medikamente etc. übernimmt, zumindest einen Teil je nach Vermögen. Wer das nicht tut, verletzt die Familienehre.

Stärker noch sind die Erwartungen und Verpflichtungen, wenn jemand aus der Familie stirbt. Ein Trauerbesuch und die Teilnahme bei der Beerdigung und der Kosten dafür sind ein Muss.

Wenn jemand in der Familie stirbt, erst recht, wenn es ein Vater oder der Großvater ist, entsteht eine Lücke in dem Beziehungsnetz, die die ganze Familie zu schließen bemüht ist. Keiner darf unversorgt bleiben. Und doch erleben wir, dass es nicht immer so komplikationslos und friedlich abläuft wie in der Theorie.

 

Die Rolle der Frau

Der Blick auf die Rolle der Frauen darf bei diesem Thema nicht ausgelassen werden. Frauen zählen als die “Hinzugekommenen” der Familie. Sie wurden in eine andere Familie geboren und dort aufgezogen. Aber mit der Heirat werden sie in die Familie des Mannes aufgenommen. In der Hierarchie stehen sie zunächst auf der untersten Stufe und müssen allen dienen. Leider wird diese Stellung von vielen ausgenutzt. Sie haben zwar im eigenen Elternhaus die Haushaltsführung und vieles mehr gelernt, aber nun werden sie oftmals kontrolliert und unnötig ausgenutzt. Sie müssen sich am Anfang eine Stellung in der neuen Familie erarbeiten. Erst wenn sie ein Kind zur Welt bringen, erst recht bei einem Jungen, der den Familiennamen trägt, rücken sie in ihrer Stellung nach oben.

In ihrem Elternhaus war die Frau die geliebte Tochter, aber im Haus ihres Mannes ist sie zunächst ein Nichts, das sich bewähren muss. Bei Konflikten der Braut mit der Schwiegermutter hält der Mann zu seiner Mutter getreu dem Sprichwort: “In der Welt gibt es viele Frauen, aber man hat nur eine Mutter.” Wenn die “Hinzugekommene” sich nicht in die Situation der Familie ihres Mannes einordnet, bzw. sich nicht unterordnet, kann sie wieder gehen und wird durch eine andere ersetzt. Das ist ein sehr großer Druck, der auf den jungen Frauen lastet: Diese Unsicherheit, die Spannungen mit der Schwiegermutter, die harte Arbeit in Haus und Hof, evtl. noch die kritischen Bemerkungen der anderen Familienmitglieder und obendrein unter Umständen kinderlos zu bleiben ist eine viel zu große Herausforderung.

 

Fazit

Jede Ordnung hat sein Gutes und seine Herausforderungen. Damit sie auch in unserem Land eine Familie haben, lasst uns die Migranten nicht nur als Einzelindividuen sehen, sondern ihnen Schwester und Bruder, Vater und Mutter, Tante und Onkel werden, denen sie vertrauen können, denen sie aber auch Ehrerbietung zeigen können. Sie wollen nicht immer Empfänger sein. Sie wollen auch anderen dienen und sie ehren können.

 

aus Orientierung: M 3 / 2021