Auf Fremde zugehen – ein Grenzübertritt?

Auf Fremde zuzugehen erscheint uns oft wie ein Grenzübertritt. Ist es überhaupt richtig und nötig? Und wenn ja: was hilft uns dabei?

Eine klare Grenze

Etwa drei Jahre lang war Jesus wie ein rabbinischer Wanderprediger in Galiläa und Judäa unterwegs. Während dieser Zeit sah er eine klare Grenze für sein Wirken: „Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.“ (Mt 15,24) Entsprechend grenzte er auch den Aufgabenbereich seiner Jünger deutlich ein: „Geht nicht auf einen Weg der Nationen, und geht nicht in eine Stadt der Samariter; geht aber vielmehr zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel!“ (Mt 10,5f)

                                                                                                              … und doch

Nach den Berichten der Evangelien ging er aber manchmal ins „Ausland“, wahrscheinlich, um sich für eine Zeitlang zurückzuziehen. So erzählt der Evangelist Markus: „Er ging weg in das Gebiet von Tyrus; und er trat in ein Haus und wollte, dass niemand es erfahre.” (Mk 7,24) Eine Frau, Griechin, Syro-Phönizierin von Geburt (also „Ausländerin“) hörte aber, dass Jesus in der Nähe sei, kam zu ihm und bat ihn, dass er einen Dämon von ihrer Tochter austreibe. Entsprechend der Grenze seines Auftrags wies Jesus sie ab: „Lass zuerst die Kinder satt werden, denn es ist nicht schön, das Brot der Kinder zu nehmen und den Hunden hinzuwerfen.“ (Mk 7, 27) Sie akzeptierte das: „Ja, Herr; aber auch die Hunde essen unter dem Tisch von den Krumen der Kinder.“ … und Jesus akzeptierte, dass sie damit, im Vertrauen auf seine Barmherzigkeit, die eigentlich deutlich gezogene Grenze überschritt. „Um dieses Wortes willen geh hin! Der Dämon ist aus deiner Tochter ausgefahren.“ (Mk 7, 28.29) – Wo ein Mensch im Glauben auf ihn zukam, fiel bei Jesus anscheinend diese Grenze flach.

Ähnlich war es mit einem römischen Hauptmann. Vielleicht wusste er gar nicht, dass Jesus eigentlich nur für die „verlorenen Schafen des Hauses Israel“ da war. Er ging auf Jesus zu und bat ihn um Heilung für seinen Diener. (Mt 8,5f) Aber irgendwie muss er doch etwas von einer Grenze gespürt haben. Als Jesus sagte: „Ich will kommen und ihn heilen,“ antwortete er: „Herr, ich bin nicht würdig, dass du unter mein Dach trittst; aber sprich nur ein Wort, und mein Diener wird gesund werden.“ (Vers 7.8) Als Jesus das hörte, wunderte er sich und sprach zu denen, die nachfolgten: „Wahrlich, ich sage euch, bei keinem in Israel habe ich so großen Glauben gefunden.“ Und er fuhr fort: „Ich sage euch aber, dass viele von Osten und Westen kommen und mit Abraham und Isaak und Jakob zu Tisch liegen werden in dem Reich der Himmel.“ (Vers 10.11) – Wieder ließ Jesus es zu, dass ein „Heide“ – im Vertrauen auf Jesu Macht und Barmherzigkeit – die Grenze zu ihm hin überschritt, und er kündigte an, dass viele kommen, „die Grenze überschreiten“ und Angehörige von Gottes Volk werden.

Grenzenlos

Nach seiner Auferstehung und vor seiner Himmelfahrt gab Jesus seinen Jüngern einen grenzenlosen Auftrag: „Geht hin in die ganze Welt und predigt das Evangelium der ganzen Schöpfung!“ (Mk 16,15) Er wusste (und weiß), dass ihm nun „alle Macht gegeben (ist) im Himmel und auf Erden“. Deshalb sollen von jetzt an Menschen weltweit zu seiner Gemeinde gehören: „Geht nun hin und macht alle Nationen zu Jüngern!“ (Mt 28,19) Er versprach der kleinen Gruppe der Apostel die dazu nötige Kraft: „ihr werdet Kraft empfangen, wenn der Heilige Geist auf euch gekommen ist; und ihr werdet meine Zeugen sein, sowohl in Jerusalem als auch in ganz Judäa und Samaria und bis an das Ende der Erde.“ (Apg 1,8)

Hilfe, die Grenze zu überwinden

Nach den Berichten der Apostelgeschichte brauchten seine Jünger allerdings hin und wieder „Nachhilfe“, um die verschiedenen Grenzen zu überschreiten. Damit auch die Grenze „hin in die ganze Welt“ überwunden wurde, griff Gott noch einmal besonders ein: Zuerst sandte er einen Engel zu dem römischen Hauptmann Kornelius, der offensichtlich von ganzem Herzen Gott dienen wollte (Apg 10,1-5): er solle Simon Petrus holen lassen. Dann sprach er durch eine Vision zu Petrus, dem Apostel, und machte ihm deutlich, dass er sich von keinem Menschen abgrenzen dürfe. So folgte dieser der Einladung des Kornelius „ohne Widerrede“. (Apg 10,29) Bei der Begrüßung erinnerte er aber noch einmal daran: „Ihr wisst, wie unerlaubt es für einen jüdischen Mann ist, sich einem Fremdling anzuschließen oder zu ihm zu kommen; und mir hat Gott gezeigt, keinen Menschen gemein oder unrein zu nennen.“ (Apg 10,28)
Wie es scheint, war Petrus mit dem, was er Kornelius und allen in seinem Haus sagen wollte, noch längst nicht zu Ende; aber während er erwähnte, „dass jeder, der an ihn (Jesus Christus) glaubt, Vergebung der Sünden empfängt durch seinen Namen“, … „fiel der Heilige Geist auf alle, die das Wort hörten.“ (Apg 10,43f) – Ist es nicht eigentlich so, dass Gott über allen Grenzen steht und dass er Menschen, Suchenden auf der einen und Bezeugenden auf der anderen Seite, dabei hilft, Grenzen zu überwinden?

Her und Hin über die Grenze

Ein Freund, Pfarrer im Westerwald, rief uns an: eine iranische Familie mit islamischem Hintergrund sei zu ihm gekommen und wolle sich taufen lassen; ob wir zu dem Gespräch dazukommen könnten? Der Vater der Familie erzählte dann: bereits im Iran hatten sie Kontakte zu Christen gehabt. Zumindest der Vater hatte auch schon im Neuen Testament gelesen. Nach ihrer Flucht wollten sie sich nun in Deutschland taufen lassen. Der Pfarrer, mit dem sie zuerst sprachen, warnte sie: es könne doch lebensgefährlich sein, sich vom Islam abzuwenden und sich taufen zu lassen. Aber er werde sich noch einmal bei ihnen melden – was aber nie geschah. Dann wurde die Frau zu einem christlichen Frauenfrühstück eingeladen. Sie kamen zu einem Hauskreis – und bekamen Mut, einen zweiten Anlauf zu wagen, „die Grenze zu überwinden“: sie klopften bei unserem Freund an …

Ganz sicher ist es wichtig, dass wir als „alteingesessene“ Christen in Deutschland uns aufmachen und Grenzen überwinden, dass wir auf Menschen aus anderen Kulturen zugehen und ihnen auf unterschiedliche Arten und mit unterschiedlichen Mitteln Jesus Christus bezeugen. Hilfreich und ermutigend ist es dabei zu wissen: Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus ist oft schon längst jenseits unserer Grenzen dabei, zu Menschen zu sprechen. Wie oft sind schon Menschen aus anderen Völkern in unsere Gemeinden gekommen – nur weil sie Kontakte zu Deutschen suchten? Oder weil sie eigentlich nach der Wahrheit oder sogar schon ganz gezielt nach Jesus Christus suchten?
Da ist es wichtig, dass unsere Türen und Herzen weit offen sind und unser Mund sich öffnet zum Zeugnis. Lasst uns einander Mut machen, Grenzen zu überwinden! Unser Gott ist schon längst diesseits und jenseits unserer Grenzen am Werk. Offenheit und Ablehnung erfahren wir diesseits und jenseits unserer nationalen, sozialen und sonstigen Grenzen. Wie dem auch sei: es werden „viele von Osten und Westen kommen und mit Abraham und Isaak und Jakob zu Tisch liegen in dem Reich der Himmel“ (Mt 8,11) – und wir durch Jesu Gnade auch!

aus Orientierung: M #magazin 1/2022