Der offizielle Glaube der Muslime ist weitgehend bekannt. Es gibt dazu verschiedenste Veröffentlichungen, selbst in deutschen Schulen befassen sich Schüler mit der Religion Islam. Auf den inoffiziellen Glauben, den Volksislam und reale Ängste der Muslime stößt man im Alltag. Die Eigenarten und Ausdrucksformen des Volksislams sind sehr unterschiedlich. Orte von toten Heiligen genießen besonderen Zulauf. Bei Erfolg wird ein Tieropfer gebracht oder sonst ein gutes Werk im Namen des „Heiligen“.

Vielfältige Angstauslöser

Wenn größere Probleme des alltäglichen Lebens auftauchen, wie Krankheit, Hochwasser, Dürre, Missernte, Unfall und Krieg wird Hilfe an Orten oder bei Personen besonderer Kraft gesucht. Das Leben bringt natürlich noch eine Reihe anderer Probleme mit sich, die Ängste auslösen können, wie z. B. die Angst vor bösen Geistern.

Hilfe im Animismus?

Sehr entscheidend ist nun die Frage, wo der Betroffene Hilfe sucht und welche Antworten er auf seine Angst findet. Vielfach ist festzustellen, dass gerade hier das animistische und nicht orthodox muslimische Denken zum Vorschein kommt. Denn Gott ist ja weit entfernt und Hilfe nur bei jemand zu finden, der selber Mensch ist oder war. Das ist dann oft nicht ein Theologe oder Gebildeter, sondern ein Mensch, der durch übernatürliche Machterweise Autorität genießt. Wie stark das animistische Denken im Alltag verankert ist, zeigt sich daran, welche Mittel zur Angstbewältigung eingesetzt werden: Reicht das Eingreifen eines Heiligen, das Aussprechen bestimmter Schwüre oder ist der Einsatz von Magie nötig? 

Übliche Ängste und „Hilfsmittel“

Der böse Blick wird als Ursache für Krankheit gesehen. Wobei es verboten ist, jemand direkt des bösen Blicks zu beschuldigen. Eine Person, die z. B. blaue Augen und langes blondes Haar hat, kann die Ursache für ein Unglück sein, weil durch sie böse Geister auf etwas Wertvolles aufmerksam werden, was die Geister dann zerstören wollen. Gegen diesen bösen Blick wird das „Nasar Bondschuu“ (türk. „Nazar Boncuğu“) eingesetzt, eine blaue Glaskugel am Auto, in der Auslage im Geschäft oder an der Kleidung eines Kleinkinds. Wenn es zerbricht, soll es einen bösen Blick auf sich gelenkt haben. Die Schönheit von Kleinkindern sollte nicht gelobt werden, weil dadurch wiederum die bösen Geister aufmerksam werden und ihm schaden würden. An Stelle dessen wird gerne das Wort „Maschallah“ ausgerufen, das den Namen Gottes enthält. Aus Angst vor Schaden werden Amulette oder Glücksbringer getragen, die Schutz gewähren sollen. Vor den Dschinn (Geistern) herrscht Angst, sie können in der Gestalt von Tieren, Menschen oder Steinen auftreten. Ihr Ziel ist es, auf die Welt der Menschen und Kreaturen überzugreifen und sie in ihre eigenen Launen und Wünsche zu verwickeln. Talismane sollen auch offensichtliche Magie unwirksam machen und Krankheiten vertreiben. Einzelne Koranverse werden in kleinen Ledertäschchen um den Hals oder in die Kleidung eingenäht getragen. Werden Flüche ausgesprochen, sind Dschinn oder tote Heilige durch die Flüche zu einer Mitarbeit gezwungen, sonst kommen die Folgen des Fluches über die Dschinn selbst. Magie und Zauberei sind in der islamischen Welt machtvolle Kräfte. Magie kann sowohl zum Heilen als auch als Auslöser oder Zerstörer der Liebe verwendet werden. Streitenden kann sie übernatürliche Kräfte geben.

„Geistliche“ im Volksislam

Eine große Zahl inoffizieller Geistlicher (männliche und weibliche Nicht-Theologen) überwacht in Krisenzeiten die Einhaltung bestimmter Riten. Für jede Art von Angst und Sorge haben sie eine Lösung. Vielfältig sind ihre Funktionen, da sie von der jeweiligen Fähigkeit abhängen:

Gebetsschreiber: Sie verarbeiten bestimmte Koranverse zu Glücksbringern und Talismanen.

Medizinmänner: Viele Jahre sorgten sie in Westafrika für die Ausbreitung des Islam, weil sie durch Kräutermedizin, Glücksbringer, Amulette und durch Exorzismus „halfen“ und für den Islam warben.

Wahrsager: Sie „finden“ Ursachen für Krankheiten und behandeln sie entsprechend. Sie sagen zukünftige Ereignisse voraus und geben damit Anweisung zum Handeln.

Exorzisten: Sie spielen eine große Rolle bei einer Gesellschaft, die menschliche Schwierigkeiten als Ergebnis göttlichen Eingreifens sieht.

Hoca: Der türkische geistliche Führer eines Dorfes kann gleichzeitig der Dorfzauberer sein.

Mullah: an ihn wenden sich Kurden bei Krankheiten, Exorzismus und wegen Glücksbringern.

Zauberer: Sie spezialisieren sich z. B. auf die Magie in Sachen Liebe. Sie können sexuelles Verlangen verstärken oder dämpfen oder sie bemühen sich, ein mögliches Paar zusammenzubringen. Sie helfen auch, einen unliebsamen Ehemann auszuspannen zu Gunsten eines anderen.

Hebamme: Im Volksglauben ist sie wie eine Geistliche. Ihre Hilfe ist gefragt bei zu viel oder zu wenig Fruchtbarkeit. Teilweise wird sie auch als Heilerin für gewöhnliche Krankheiten befragt.

Ängste bei Konfliktbewältigung

Der muslimische Mann gilt als Verteidiger des Familienrufs. Wird ein Familienmitglied durch einen Außenstehenden beleidigt oder verletzt, ist er als Haushaltsvorstand verpflichtet, zu reagieren. Reagiert er nicht, d. h. er hält die Ehre der Familie nicht aufrecht, kommt er leicht in den Ruf eines Feiglings. Ein Konflikt tendiert dazu, sich aufzuheizen, weil er von keinem mehr ohne Gesichtsverlust abgebrochen werden kann. Am Ende steht manchmal die von allen gefürchtete Blutrache. Nur durch das Vermitteln Dritter kann die Auseinandersetzung beendet werden, ohne dass eine der beiden Seiten einen Statusverlust erleidet.

Angst vor westlicher Dekadenz

Manche Muslime in der westlichen Welt fürchten sich auch vor uns und unserer westlichen Zivilisation. Sex im Fernsehen, Enttabuisierung aller Moralvorstellungen – das passt nicht zu einer Schamkultur, wo ähnliches heimlich und versteckt läuft. Frauen wollen und sollen sexuell rein in die Ehe gehen. Ihre Keuschheit ist der Kern ihrer Ehre – das unterscheidet sie von ehrlosen Frauen. Muslime stellen sich folgende Fragen selten: Stehen in der westlichen Welt Christen hinter den freizügigen Fernsehprogrammen oder Zeitschriften? Oder gibt es hier etwa auch viele Gottlose, die nur dem Namen nach Christen sind? Auch wenn sie unter uns leben, vermeiden manche Muslime sehr konsequent freundschaftliche Kontakte mit Nichtmuslimen. Man kann beinahe sagen: je kürzer die eigene Schulbildung, desto größer ist oft auch die Angst. Manche Mullahs fordern sie zu solcher Distanz und Scheu geradezu auf. Sie erlauben nicht, dass ihre Gläubigen mit Nichtmuslimen irgendwelche Feste feiern. Manche Muslime können nach ihrer Auffassung in Westeuropa nur überleben, wenn sie mit vielen anderen Muslimen „Inseln religiöser Kultur in einem Meer dekadenter westlicher Zivilisation“ bilden. Diese Einigelung und Abschottung erschwert den alltäglichen Umgang mit ihnen und verursacht für sie selbst eine Reihe von Schwierigkeiten.

Christen begegnen Ängsten von Muslimen

Muslime haben Angst, den von Gott gesandten Retter Jesus Christus im Gebet anzusprechen. Die starke Verunsicherung, sich nicht an Allah zu wenden und dem Verbrechen des Abfalls vom Islam Vorschub zu leisten, hält viele davon ab. Doch in Krisenzeiten sind Muslime offen für ein Fürbitte-Gebet im Namen von Jesus. Viele können bezeugen und spüren, dass Jesus eingreift. Das stärkt ihr Vertrauen und lässt sie später auch im Namen Jesu beten. Für Beziehungen ist wichtig, sich mit der weniger bekannten Welt des Volksislam zu beschäftigen, um überhaupt wirkliche Angst verstehen zu können. Angst vor unserer westlichen Lebensweise kann vor allem durch persönliche Kontakte abgebaut werden, in denen der gelebte Glaube für sie fassbar und ein Stück sichtbar wird. Für Christen muss der Dreiklang unseres Auftrags neu erfasst werden: Predigt, macht Kranke gesund, treibt böse Geister aus! (Mt 10,8)

 

Orientierung 2001-05; 15.11.2001

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