Ein Schwerpunkt der Botschaft des Koran ist die Ankündigung des Gerichtes Gottes über alle Menschen aller Zeiten – und das heißt: auch über die Menschen, die bereits gestorben sind. Als Mohammed anfing, in Mekka über diese Thematik zu predigen, reagierten viele seiner Mitbürger mit Unverständnis und Spott. Ihre Fragen werden im Koran an verschiedenen Stellen erwähnt: „Und sie sagen: ‘Sollen wir, wenn wir (bereits) Knochen geworden und auseinandergefallen sind, wirklich wieder als neue Schöpfung erweckt werden?’“ (Sure 17,49; vgl. auch 50,3; 79,10-12; ähnlich 19,66; 75,3). Mohammed war jedoch im Unterschied zu seiner heidnischen Umgebung fest davon überzeugt, dass Gott die Toten wieder aus ihren Gräbern herausholen werde. Der „Tag der Auferstehung“ (yaum al-qiyama) wird im Koran etwa 70 Mal erwähnt. Dementsprechend ist der Glaube an die Auferweckung der Toten ein Grunddogma des Islam. Wer „die Rückkehr zu Gott“ leugnet, kann kein wahrer Muslim sein (vgl. etwa Sure 23,15; 30,16).

Die Auferweckung zum Gericht

Eine andere Bezeichnung für den „Tag der Auferstehung“ ist: „Tag des Gerichts“ (yaum ud-din – Sure 1,4). Die Auferweckung der Toten hat im Wesentlichen den Sinn, alle Menschen vor dem Thron Gottes zu versammeln, um mit ihnen abzurechnen über ihr Glauben und Handeln während ihrer Lebenszeit. Den Vorgang der Auferweckung stellen Muslime sich gewöhnlich folgendermaßen vor: Gott befiehlt dem Engel Israfil, zum ersten Mal in die Posaune zu stoßen. Daraufhin werden alle Menschen, ja, alle Lebewesen überhaupt, sterben. Sure 29,57: „Jeder wird den Tod erleiden. Und dann werdet ihr zu Uns zurückgebracht.“ Die Posaune wird ein zweites Mal ertönen, und alle Verstorbenen werden in einem Augenblick wieder zu neuem Leben erweckt und vor ihren Schöpfer und Richter gestellt.

Auferweckung als Wiedervereinigung von Seele und Leib

Wenn ein Mensch stirbt, wird seine Seele von seinem Leib getrennt und existiert bis zum Jüngsten Tag in einem Zwischenzustand. Durch die Auferweckung wird ihr wieder ein Körper verliehen, der oft als eine neue Schöpfung vorgestellt wird: „Die Menschen werden an jenem Tag barfuß, vollkommen nackt und unbeschnitten auferweckt.“ (Ömer Öngüt, Islam, Die Bestimmungen Allahs des Allmächtigen, S. 162). In dieser neuen Leiblichkeit werden sie vor ihrem Schöpfer und Richter zum Gericht erscheinen – in diesem Leib erleben sie auch die Freuden des Paradieses oder die Qualen des Höllenfeuers.

Die Notwendigkeit der Auferweckung

Die Auferweckung der Toten ist eine logische Notwendigkeit: Die Menschen sind Gott, ihrem Schöpfer, für ihr Tun und Lassen verantwortlich. Da vielen nicht im Diesseits vergolten wird, was sie verdient haben, muss es einen zukünftigen Tag der Abrechnung jenseits der Todesgrenze geben. Viele, die jetzt, während ihres irdischen Lebens, nicht glauben und die Verkündigung der Propheten ablehnen, werden am Tag der Auferstehung erkennen müssen, dass sie im Irrtum waren (Sure 16,39).

Die Auferweckung und Gottes Allmacht

Im Koran wird immer wieder betont, dass der Glaube an die Auferweckung der Toten vernünftig und einleuchtend ist. Es werden verschiedene Argumente angeführt, die den Gegnern Mohammeds zeigen sollen, dass ihre Zweifel und ihr Spott unbegründet sind. Der Gott, der den Menschen erschaffen hat aus dem Nichts, kann ihn auch wieder auferwecken: „Bedenkt der Mensch denn nicht, dass Wir ihn zuvor erschaffen haben, da er nichts war?“ (Sure 19,67) – Auch in den Naturereignissen finden sich Hinweise auf die Auferweckung: „Und Gott ist es, der die Winde schickt, und sie wühlen die Wolken auf. Dann treiben Wir sie zu einem abgestorbenen Land und beleben danach die Erde nach ihrem Absterben wieder. So ist es auch mit der Auferstehung.“ (Sure 35,9) Der wichtigste logische Grund für die Möglichkeit der Auferweckung ist Gottes Allmacht. „Sie schwören bei Gott ihren eifrigsten Eid, Gott werde die nicht auferwecken, die sterben… Unsere Rede zu einer Sache, wenn Wir sie wollen, ist, zu ihr zu sprechen: Sei!, und sie ist.“ (Sure 16, 38+40; ähnlich Sure 36,82)

Die Auferweckung – außerhalb der Geschichte

Nach dem Koran ist die Auferweckung kein zentrales Ereignis innerhalb der Weltgeschichte, sondern steht an ihrem äußersten Rand. Nachdem die Geschichte der jetzigen Schöpfung zum Abschluss gebracht worden ist, bevor das ewige Leben in Paradies oder Hölle beginnt, wird Gott die Toten auferwecken. Es werden zwar einzelne Totenauferweckungen erwähnt, die sich im Verlauf der Geschichte ereignet haben. Vor allem hat Jesus („mit Erlaubnis Gottes“, wie ganz deutlich betont wird) Tote „lebendig gemacht“ (Sure 3,49) bzw. „herausgebracht“ (Sure 5,113). Beide Ausdrücke werden auch für das auferweckende Handeln Gottes gebraucht: „Er macht die Toten lebendig“ (Sure 22,6); „du bringst die Lebenden heraus aus den Toten… „ (Sure 3,27). Diese Totenauferweckungen sollen jedoch nur Zeichen sein, die bestätigen, dass Jesus tatsächlich ein Gesandter Gottes ist. Nach islamischem Verständnis weisen sie nicht darauf hin, dass Jesus Christus gekommen ist, um in diese Welt der Sünde und des Todes Versöhnung und ewiges Leben hineinzubringen. Weil der Koran den Kreuzestod Jesu bestreitet, bleibt auch kein Raum für die Auferstehung Jesu Christi von den Toten. Und damit gibt es auch keine Auswirkungen einer in der Geschichte geschehenen Auferstehung im diesseitigen Leben von Menschen. – Der Glaube an die Auferweckung der Toten steht weder für das irdische Leben noch für das Jenseits in Verbindung mit einer geistlichen Erneuerung des Menschen.

Die Botschaft der Auferweckung als Warnung

Wenn im Koran von der Auferweckung der Toten die Rede ist, fehlt der Klang der Freude und des Triumphes. Eher schwingt ein warnender, drohender Unterton mit (Sure 50,20: „Das ist der angedrohte Tag“). „Auferstehung“ bedeutet: Der Mensch ist und bleibt mit dem allmächtigen, undurchschaubaren Gott konfrontiert; nicht einmal durch den Tod kann er der Verantwortung vor seinem Richter entrinnen, und im Blick auf das bevorstehende Gericht mit seinem ungewissen Ausgang lebt er in einer Mischung von Hoffnung und Furcht.

 

Orientierung 2000-02; 15.04.2000

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