Die Sache ist verworren – fast von Anfang an:

A – Der Koran bestätigt Thora und Evangelium
Mohammed empfängt Offenbarungen. Er kommt zu der Überzeugung, dass der Engel Gabriel ihm Worte von demselben Gott übermittelt, an den auch Juden und Christen glauben. Das wird ihm auch so gesagt:
1) Der Koran bestätigt die früheren Offenbarungen: „Dieser Koran ist … eine Bestätigung dessen, was (an Offenbarung) vor ihm da war…“ (Sure 10,37 – Es finden sich erstaunlich viele Stellen, die besagen, dass der Koran die früheren Schriften bestätigen soll. Vgl. zum Beispiel Sure 2,97 / 3,2 / 6,92 / 12,111 / 35,31 / 37,37 / 46,12.30)

2) Wer die Offenbarungen Mohammeds anzweifelt, soll nur die „Schriftbesitzer“ fragen: „Fragt doch die Leute der (früheren) Mahnung (d.h. Angehörige der früheren Offenbarungsreligionen), wenn ihr nicht Bescheid wisst!“ (Sure 16,43) – Sogar Mohammed selber wird dazu aufgefordert. (10,94-95)

3) Die Schriftbesitzer selber sollen sich nach den Offenbarungen richten, die sie empfangen haben: „Sag: Ihr Leute der Schrift! Ihr entbehrt (in euren Glaubensanschauungen) der Grundlage, solange ihr nicht die Thora und das Evangelium, und was (sonst noch) von eurem Herrn (als Offenbarung) zu euch herabgesandt worden ist, haltet.“ (5,68; s. auch 5,46f)

4) Die Gläubigen (d.h. die Muslime) sollen auch an die Schrift glauben, die schon früher offenbart worden war: „Ihr Gläubigen! Glaubt an Gott und seinen Gesandten und die Schrift, die er auf seinen Gesandten herabgeschickt hat, und die Schrift die er (schon) früher herabgeschickt hat! Wer an Gott, seine Engel, seine Schriften, seine Gesandten und den jüngsten Tag nicht glaubt, ist (damit vom rechten Weg) weit abgeirrt.“ (4,136)

5) Denn ganz generell gilt: Gottes Wort kann nicht verändert werden: „Die Worte Gottes kann man nicht abändern (w. <gegen etwas anderes> austauschen).“ (10,64 ; ähnlich 6,34 und 50,29)

So weit ist nach den Aussagen des Koran alles klar: Gott ändert sein Wort nicht ab – und kein Mensch könnte es abändern. Der Koran bestätigt in arabischer Sprache, was Gott auch vorher schon Adam, Abraham, Mose, David und vielen anderen Propheten geoffenbart hatte (vgl. 46,12).

B – Woher kommen die Widersprüche?

Doch wer die „früheren Schriften“ kennt, wird bei der Koranlektüre schnell feststellen, dass die Offenbarungen Mohammeds an vielen, sogar zentralen Stellen, dem biblischen Zeugnis widersprechen. Deshalb erstaunt es auch nicht, dass nur wenige Juden und Christen die Botschaft Mohammeds annahmen, während die große Mehrheit ihn als Propheten ablehnte. Nun finden sich im Koran (konsequenterweise!) keine generellen Behauptungen, dass die Texte der biblischen Bücher verfälscht worden seien. Denn das würde ja allen oben zitierten Aussagen widersprechen. In Sure 3,78 werden zwar einige von den „Leuten der Schrift“ beschuldigt, den Wortlaut der Schrift zu verdrehen, „damit ihr meint, es (d. h. das, was sie sagen) stamme aus der Schrift, während es (in Wirklichkeit) nicht daraus stammt, und sagen, es stamme von Gott, während es (in Wirklichkeit) nicht von ihm stammt.“ Einigen wird vorgeworfen, die Schrift mit Lug und Trug zu verheimlichen (3,71). Juden zur Zeit Mohammeds werden angeklagt, dass sie „die Worte (der Schrift) entstellten (indem sie sie) von der Stelle weg(nahmen), an die sie hingehören. Und sie vergaßen einen Teil von dem, womit (oder: woran) sie erinnert worden waren. (Sure 5,13) Auch die Christen „vergaßen einen Teil von dem, womit sie ermahnt worden waren.“ (5,14) – Im Blick auf einzelne Juden gibt es sehr harte Aussagen: „Unter ihnen gibt es Heiden, die die Schrift nicht kennen, (ihren Ansichten und Behauptungen) vielmehr (eigene) Wünsche (zugrunde legen) und nur Mutmaßungen anstellen. 79 Aber wehe denen, die die Schrift mit ihrer Hand schreiben und dann sagen: „Das stammt von Gott“, um sie zu verschachern! Wehe ihnen im Hinblick auf das, was ihre Hand geschrieben hat! Wehe ihnen im Hinblick auf das, was sie begehen!“ (2, 78f) In keinem Koranvers wird jedoch behauptet, dass die früheren Schriften zu Mohammeds Zeit nur noch in verfälschtem Zustand vorlägen oder dass die korrekten und zuverlässigen Urschriften (leider) verloren gegangen seien. Allerdings gibt es einen Koravers, der Fragen auslöst, wie zuverlässig Gottes Wort denn tatsächlich sei: „Und Gott löscht (seinerseits) aus, was er will, oder lässt es bestehen. Bei ihm ist die „Mutter des Buches“ (die Urschrift, in der alles verzeichnet ist). (13,39)

C – Was sagen die Hadithen und frühe Koranausleger?

In einem Hadith wird den Schriftbesitzern vorgeworfen, dass sie an einzelne Teile der Schriften glauben und an andere nicht. (Bukhari, Volume 5, Book 58, Number 281 gefunden auf: http://www.sahih-bukhari.com/Pages/Bukhari_9_93.php) In zwei einander ziemlich ähnlichen Hadithen (Bukhari, Volume 9, Book 93, Number 613 + 614) werden Muslime gewarnt, die Schriftbesitzer irgendetwas zu fragen. Der Vorwurf, der in Sure 2, 78f an einzelne Juden gerichtet war, wird hier verallgemeinert: „Allah hat euch gesagt, dass die Leute der Schriften einige von Allahs Büchern verändert haben…“. Hier wird eine Aussage von Abdullah Ibn `Abbas wiedergeben, der einer der Gefährten Muhammads war und ein Vetter von ihm. Ist Abdullah Ibn `Abbas also überzeugt, dass Juden und Christen ihre Heiligen Schriften verfälscht haben? In seinem Kommentar zu Sure 85,19-22 schreibt derselbe Abdullah Ibn `Abbas mit Blick auf die Suren 3,78 und 4,46 über die Juden und Christen: ,Sie verdrehen das Wort’ bedeutet, ‚sie verdrehen oder ändern seine Bedeutung’. Aber niemand vermag auch nur ein einziges Wort zu verändern von irgendeinem Buch Gottes. Die Bedeutung ist, dass sie das Wort falsch auslegen. – Er greift also die These auf, dass Juden und Christen die Schriften falsch wiedergeben oder auslegen. Er verneint aber ganz ausdrücklich, dass die Texte verändert worden seien.

D – Die Verfälschungstheorie

Die Behauptung, dass Juden und Christen die Texte ihrer heiligen Schriften verfälscht haben, taucht erstmals bei Ibn Hazm al-Andalusi (gest. 1064 n. Chr. in Cordoba) auf, also erst über 400 Jahre nach Mohammed! In der Auseinandersetzung mit Christen musste er feststellen, dass z.B. die im Koran behauptete Ankündigung Mohammeds sich in den vorliegenden neutestamentlichen Texten nicht finden ließ. Auch in anderen Aussagen stimmten die Texte von Bibel und Koran offensichtlich nicht überein. In seiner Argumentation ging Ibn Hazm nicht von historischen Fakten aus. Seine Überlegungen folgten einer „einfachen Logik“: Wenn der Koran die wahre, von Allah herabgesandte Schrift ist, müssen die biblischen Texte, die ihm widersprechen, falsch sein. Mohammed hat uns aber gelehrt, Thora und Evangelium anzuerkennen. Dann müssen die uns heute vorliegenden Texte der früheren Schriften verfälscht worden sein. – Auf diese Weise meinte er, die Zuverlässigkeit des Koran „beweisen“ und „retten“ zu können. Seine Grundthesen wurden von späteren islamischen Apologeten übernommen und ausgebaut. Inzwischen „wissen“ fast alle Muslime, dass die biblischen Schriften verfälscht wurden oder die ursprünglich wahren (mit dem Koran übereinstimmenden) Offenbarungstexte im Laufe der Zeit verlorengingen.

E – „Beweismaterial“ von christlichen Gelehrten

Historische „Beweise“ für die Theorie der Bibelverfälschung lieferte dann vor allem die europäische Bibelkritik seit dem 18. Jahrhundert. Die Hinweise auf „Widersprüche“ zwischen den Evangelientexten, auf historische „Unhaltbarkeiten“, Irrtümer, Abschreibefehler und auf andere Anzeichen für den „verfälschten“ Zustand der biblischen Texte werden bereitwillig in die islamische Apologetik aufgenommen. – Für die Verfälschung des (ursprünglich mit dem Islam übereinstimmenden) christlichen Glaubens wird besonders der Apostel Paulus verantwortlich gemacht, der heidnische Elemente in die Religion Jesu eingeführt haben soll. Indem muslimische Apologeten bibelkritische Theologen zu ihren Gewährsmänner machen, übersehen sie m.E. folgende Fakten:

1) Keiner dieser bibelkritischen Theologen geht meines Wissens davon aus, dass es jemals unverfälschte Offenbarungstexte gab – wie es der Koran und die islamische Theologie voraussetzen.

2) Ansatz der europäischen Kritik an den biblischen Texten ist oft, dass Wunder (die vermeintlich im Widerspruch zu den Naturwissenschaften stehen), ja, ein Eingreifen Gottes in die Weltgeschichte und teilweise sogar die Existenz Gottes überhaupt abgelehnt werden. – Solche Theologen lehnen allerdings auch die im Koran erwähnten Wunder, z. B. die Jungfrauengeburt ab. Einige verneinen generell die Existenz eines „übernatürlichen Wesens“, von Engeln und Dämonen (Dschinn) und würden wahrscheinlich auch das islamische Verständnis von Prophetie bestreiten. – Es erstaunt, dass sich muslimische Apologeten bei solchen Leuten „bedienen“, um sich von ihnen Argumente gegen die Bibel liefern zu lassen – Leuten, deren Denkvoraussetzungen sie eigentlich heftig widersprechen müssten.

F – Fazit

Der islamische Vorwurf, Juden und Christen hätten ihre Offenbarungsschriften verfälscht, fußt sicherlich auf einer einfache „Logik“, die auf viele überzeugend wirkt: Wenn man davon ausgeht, dass der Koran die von Gott offenbarte Wahrheit enthält, müssen die anderen Offenbarungsschriften, sofern sie nicht mit dem Koran übereinstimmen, falsch sein. Wenn Korantexte aber von früheren Büchern sprechen, die durch den Koran bestätigt werden, muss es einmal solche Bücher gegeben haben; bei den heut vorliegenden Texten kann es sich aber nur um Fälschungen handeln.

Im „Eifer des Gefechts“ scheinen viele gar nicht zu merken, dass sie mit dieser Theorie dem Islam eine Menge Probleme einhandeln:

1) Sie widerspricht einer ganzen Reihe von klaren koranischen Aussagen. Die Hilfskonstruktion, der Koran rede hinsichtlich der früheren Schriften von den „unverfälschten Urschriften“, hat werde im Koran noch in den frühen Überlieferungen irgendeine Grundlage.

2) Sie enthält (im Widerspruch zu klaren Aussagen des Koran!) die an Blasphemie grenzende Behauptung, Gott habe nicht darauf geachtet, dass Sein Wort im Wesentlichen unverfälscht bewahrt wurde.

3) Die Aufforderung an Mohammeds Zeitgenossen, die Schriftbesitzer zu fragen, ist nur sinnvoll, wenn diese zur damaligen Zeit im Besitz unverfälschter Schriften waren. Es ist aber anhand einer großen Zahl von Manuskripten nachweisbar, dass die Texte aus der Zeit vor Mohammed mit den heutigen übereinstimmen.

4) Es wurden nicht nur keinerlei historische Belege für eine Verfälschung der biblischen Schriften gefunden, sondern eine solche Aktion erscheint völlig unwahrscheinlich, ja, unmöglich. Wann und wie sollen z. B. Juden und Christen gemeinsam das Alte Testament verfälscht haben – wenn es doch von Beginn der christlichen Gemeinde an starke Spannungen zwischen beiden Gruppen gab?

5) Sie spiegelt ein großes Maß an Unkenntnis a) hinsichtlich der Fülle von Jahrhunderte alten Bibelabschriften und Bibelzitaten in anderen Schriften, die alle belegen, mit welcher Zuverlässigkeit Juden und Christen ihre heiligen Schriften überliefert haben; b) der Ergebnisse jüdischer und christlicher Wissenschaftler, die mit großem Einsatz die Überlieferung der biblischen Schriften erforscht haben.
(Die Voreingenommenheit und Willkür, mit der muslimische Apologeten die Ergebnisse der europäischen Theologie übernehmen oder nicht übernehmen, ist kein Ruhmesblatt für den Islam.)

G – Biblisch:

Das Entsetzlichste an diesem ganzen Vorwurf der Bibelverfälschung ist: Es wird eine Menge von Kritik an angeblichen Widersprüchen, Irrtümern, Falschaussagen etc. über die Bibel ausgekippt. Damit berauben Menschen allerdings sich selber und andere der Möglichkeit, das biblische „Evangelium“ überhaupt zu hören: die Einladung zum Frieden mit dem lebendigen Gott. So verpassen sie die Gelegenheit, sich mit Seiner Liebe und ewigem Leben beschenken zu lassen!

 

Orientierung 2015-02; 29.05.2015
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