Bei der Beurteilung der Kreuzigung Jesu ergeben sich zwischen Islam und christlichem Glauben besonders große Differenzen. Während die Bibel Kreuzigung und Auferstehung, also das Erlösungs- und Versöhnungswerk Jesu, als Zentrum des christlichen Glaubens auffasst (siehe etwa 1.Kor 15,12ff.), spielt das Ereignis im Koran nur eine sehr untergeordnete Rolle. Der Koran enthält nur einen einzigen Vers zur Kreuzigung, der zudem sehr schwer zu deuten ist und daher von muslimischen Theologen unterschiedlich ausgelegt wurde. Bei allen Differenzen ist sich die muslimische Theologie jedoch darin einig, dass die Kreuzigung Jesu, so wie die Evangelien sie berichten, keinesfalls stattgefunden haben kann.

Der Koran über die Kreuzigung

Sure 4,157+158 sagt über die Juden (Die Texte in Klammern sind Hinzufügungen des Übersetzers R. Paret): „… und (weil sie) sagten: ‚Wir haben Christus Jesus, den Sohn der Maria und Gesandten Gottes, getötet.‘ – Aber sie haben ihn (in Wirklichkeit) nicht getötet und (auch) nicht gekreuzigt. Vielmehr erschien ihnen (ein anderer) ähnlich (so dass sie ihn mit Jesus verwechselten und töteten) … Und sie haben ihn nicht mit Gewissheit getötet (d. h. sie können nicht mit Gewissheit sagen, dass sie ihn getötet haben). Nein, Gott hat ihn zu sich (in den Himmel) erhoben“. Interessanterweise geht der Koran auf die Bedeutung der Kreuzigung als Erlösungstat überhaupt nicht ein. Der Vers in Sure 4,157-158 ist nun im Arabischen so vieldeutig, dass muslimische Theologen – vor allem ab dem 19. Jahrhundert – mehrere Auslegungen erwogen haben:

1. Niemand wurde gekreuzigt: Dann würde der Vers bedeuten, dass die Juden zwar planten, Jesus zu kreuzigen, aber „es erschien ihnen nur so, als ob“ eine Kreuzigung Jesu stattgefunden hätte. Manche muslimischen Ausleger haben mit Rückgriff auf die historisch-kritische Bibelauslegung vertreten, dass Jesus aufgrund der in der Bibel berichteten Finsternis und des Erdbebens der Hinrichtung entging und von Gott rechtzeitig in den Himmel erhoben wurde.

2. Jesus wurde zwar gekreuzigt, aber auf Gottes Ratschluss hin, nicht aufgrund der Pläne der Juden: Man könnte vom Wortlaut auch annehmen, dass Jesus zwar gekreuzigt wurde, aber nicht, weil die Juden dies beabsichtigten, sondern letzten Endes, weil Gott es so beschlossen hatte. Die Betonung wäre dann: „Sie haben ihn nicht getötet“ (sondern Gott war der Verursacher seines Todes). Allerdings ist diese Meinung in der muslimischen Theologie heute eine Außenseiterposition.

3. Ein anderer wurde an Jesu Stelle gekreuzigt: Dann würde man auslegen: „Er, Jesus, erschien ihnen so, als ob er gekreuzigt wurde,“ was bedeutete, dass Jesus selbst nicht gekreuzigt wurde, sondern ein anderer entweder unabsichtlich mit Jesus verwechselt wurde (so etwa Mohammed Taufîq Sidqî oder der schiitische Theologe Mohammed Husain Tabâtabâ’î) oder dass Gott einen anderen Menschen in Jesus verwandelte, der dann an seiner Stelle gekreuzigt wurde.

Diese Deutung wird heute in der islamischen Welt wohl am häufigsten vertreten. Wer an Jesu Stelle gekreuzigt wurde, darüber gibt es wiederum zahlreiche Ansichten; meist wird jedoch Judas als der genannt, der die Strafe der Kreuzigung für seinen Verrat verdient hatte. Das ist auch die Auffassung des sogenannten „Barnabasevangeliums“, einer europäischen Evangelienfälschung aus der Zeit des 14.-16. Jahrhunderts, das den Anspruch erhebt, das einzige wahre Evangelium von Jesus Christus zu sein, aber pointiert biblische Lehren bekämpft und viele muslimische Auffassungen vertritt. Darüber hinaus haben muslimische Theologen auch viele andere Theorien über das „Kreuzigungsopfer“ vertreten, so z. B., dass sich Petrus, freiwillig als „Ersatz“ gemeldet habe, als Jesus ihm dafür das Paradies versprochen habe. Ebenso werden Simon von Kyrene, der das Kreuz trug, erwogen, sowie ein Wächter Jesu oder ein Mensch, den Gott in diesem Moment erschuf, der Satan, Jesus Barabbas, ein jüdischer Rabbi oder ein römischer Soldat. In der Neuzeit überwiegt in der muslimischen Koranauslegung auf jeden Fall die „Substitutionstheorie“, also die Auffassung von einem „Ersatz“, der an Jesu Stelle gekreuzigt, aber aufgrund der von Gott bewirkten „Ähnlichkeit“ für Jesus gehalten wurde, so dass die Umstehenden der Meinung waren, sie hätten Jesus selbst gekreuzigt. Dann sei Jesus mit dem Geist oder mit Körper und Geist lebendig in den Himmel aufgenommen worden.

Muslimische Argumente gegen die Kreuzigung

Obwohl die genaue Bedeutung des koranischen Kreuzigungsverses letztlich dunkel bleiben muss, haben die meisten islamischen Theologen den Vers als klare Negation der Kreuzigung Jesu verstanden. Denn gegen die Kreuzigung sprächen auch folgende Argumente:

1. Kreuzigung bedeute Niederlage: Damit wäre das Scheitern der Mission Jesu erwiesen: Von den Jüngern verlassen, von Judas verraten, von Petrus verleugnet, stirbt Jesus ohne sichtbaren Erfolg vieler Bekehrungen oder der Errichtung eines Weltreiches.

2. Kreuzigung bedeute Schmach: Die Hinrichtung Jesu am Kreuz käme einem so geachteten Propheten nicht zu, sondern nur einem Frevler oder Verbrecher.

3. Auch die Bibel stütze die Kreuzigung nicht: Muslimische Theologen haben vor allem ab dem 19. Jahrhundert europäische Vertreter der historisch kritischen Bibelauslegung als „Beweislieferanten“ für ihre Auffassung von der Unglaubwürdigkeit der Kreuzigung herangezogen.

4. Die Kreuzigung und stellvertretende Erlösung seien intellektueller Unsinn: Der Gedanke, dass der Tod eines Menschen (und so beschreibt der Koran Jesus) für einen anderen Menschen irgendetwas bewirken könnte, ist mit dem menschlichen Verstand nicht zu vereinbaren. Dass Jesus als Unschuldiger litt, macht die Sache noch unglaubwürdiger.

5. Die Vorstellung der Kreuzigung stamme aus den heidnischen Religionen: Bedeutende muslimische Apologeten wie der Kairiner Religionswissenschaftler und Jurist Mohammed Ab Zahra (1898-1974) oder der in Cambridge promovierte Historiker und ägyptische Religionswissenschaftler Ahmad Shalabî haben argumentiert, dass Lehren wie die Dreieinigkeit, Gottessohnschaft und Erlösung keine ursprünglichen Lehren des Christentums seien, sondern erst von Paulus, dem „Verderber des Christentums“, nach Jesu Tod aus dem römisch-heidnischen Umfeld und aus den Religionen Tibets, Nepals oder Indiens ins Christentum übernommen wurden.

 

Orientierung 1995-05; 15.11.1995

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