Gewährt der Islam Glaubensfreiheit? Ja und nein. In der Regel betrachten Muslime ebenso wie Vertreter der islamischen Theologie die Hinwendung eines Menschen zum Islam als wünschenswert, während sein Abfall vom Islam meist sehr negativ beurteilt wird. Das gilt umso mehr, wenn sich der „Apostat“ einer anderen Religion zuwendet, wie etwa dem christlichen Glauben. Das hat mehrere Gründe:

Zwar sagt der Koran: „Es gibt keinen Zwang in der Religion“ (Sure 2,256). Auch haben muslimische Theologen im Laufe der Geschichte der Koranauslegung häufig betont, dass niemand zur Konversion zum Islam gezwungen werden dürfe. Das spiegelt sich auch mindestens in Teilen der islamischen Eroberungsgeschichte wider, in der Christen und Juden in den von Muslimen eroberten Gebieten in der Regel ihren Glauben und ihre religiöse Autonomie behalten durften und nicht konvertieren mussten, dafür aber „Schutzbefohlene“ (dhimmis) und Unterworfene wurden, die Sondersteuern entrichten mussten. Sure 2,256 bedeutet aber nicht, dass der Islam für Religionsfreiheit im umfassenden Sinne oder die Gleichheit aller Religionen eintreten würde. So waren Juden und Christen im islamisch eroberten Gebiet Geduldete, Bürger zweiter Klasse und rechtlich Benachteiligte, da sie einer durch den Islam überholten – und durch die Abweichungen vom Islam als verfälscht beurteilten – Religion anhingen. In der Tatsache, dass schon der Koran das Juden- und Christentum als minderwertige Religionen ansieht, liegt ein Grund, warum eine Konversion zum Christentum als grundlegend falsch gilt, denn sie scheint ein Rückschritt zu einem überholten Glauben zu sein, der aus Sicht des Islam durch das Kommen des Islam und Mohammed, das „Siegel der Propheten“ (Sure 33,40), abgelöst wurde. Zudem gilt das Christentum als „westliche“ Religion, als Religion der Kreuzfahrer und der Kolonialherren und wird oft mit westlich-politischer Dominanz verknüpft. Ein weiterer Grund für die Ablehnung des freien Religionswechsels liegt in der Tatsache, dass viele Muslime die Abwendung vom Islam nicht als Privatangelegenheit eines Menschen betrachten, sondern als Schande für die ganze Familie, ja, manchmal wird eine Konversion als politisches Handeln begriffen, als Aufruhr, Unruhestiftung oder Kriegserklärung an die muslimische Gemeinschaft. Weil sich nach Mohammeds Tod im Jahr 632 mehrere Stämme auf der Arabischen Halbinsel, die den Islam zunächst angenommen hatten, wieder von ihm abwandten, bekämpfte Abu Bakr, der erste Kalif nach Mohammed, diese Stämme in den sogenannten ridda-Kriegen (Abfall-Kriegen) und schlug ihren Aufstand erfolgreich nieder. Daher ist der Abfall vom Islam im kollektiven Gedächtnis der muslimischen Gemeinschaft von diesem Zeitpunkt an mit politischem Aufruhr und Verrat verknüpft.

Koran, Überlieferung und Theologie über den Abfall vom Islam und die Konversion

Der Koran spricht einerseits vom Unglauben der Menschen und vom „Abirren“ (2,108), dem der „Zorn Gottes“ (9,74) sowie die Strafe der Hölle (4,115) droht, definiert andererseits aber kein Strafmaß und benennt kein Verfahren zur einwandfreien Feststellung der Apostasie. Einige Verse scheinen sogar die freie Religionswahl nahezulegen (z. B. 3,20), während andere, wie etwa Sure 4,88-89, Muslime ermahnen, die zu „greifen und zu töten“, die sich abwenden. Ein vieldeutiger Textbefund also, der von einigen muslimischen Theologen so ausgelegt wird, dass der Koran volle Religionsfreiheit befürwortet. Die bis zum 9./10. Jahrhundert entstandene Überlieferung verurteilt den Abfall schärfer und fordert nun auch eindeutiger die Todesstrafe für die Abwendung. Dieser Forderung schließen sich bis zum 10. Jahrhundert die Gründer und Schüler der vier sunnitischen sowie der wichtigsten schiitischen Rechtsschulen an, so dass die Mehrzahl der einflussreichen Theologen der Frühzeit des Islam die Todesstrafe bei Konversion fordert. Ob diese Todesstrafe besonders in der Frühzeit des Islam in jedem Fall vollzogen wurde, ob der Abgefallene Gelegenheit zur Reue erhielt und wer überhaupt berechtigt war, den Abfall zu beurteilen und den Beschuldigten anzuklagen und hinzurichten, ist aus der Geschichte nicht eindeutig zu rekonstruieren. Bis zum 19. Jahrhundert sind hier und da Einzelfälle von Hinrichtungen bekannt, ein lückenloses Bild des Umgangs mit Apostasie in der islamischen Geschichte erhält man dadurch jedoch nicht. Im 20. Jahrhundert erhält die Thematik neue Bedeutung, als im Zusammenhang mit dem Aufkommen des Islamismus und der Forderung politisch-islamischer Kräfte, die Scharia in vollem Umfang zur Anwendung zu bringen, sich auch vermehrt Rufe nach der Hinrichtung von Apostaten erheben. So kam es in den letzten zehn Jahren des 20. Jahrhunderts in Ägypten zu mindestens 50 Klagen wegen Apostasie vor Gericht; einige Theologen forderten die Einführung der Todesstrafe im ägyptischen Recht. Heute vertreten muslimische Theologen meist drei Positionen zur Frage des Glaubenswechsels: Eine Minderheit fordert kompromisslos die Anwendung der Todesstrafe für jeden, der den Islam verlässt. Ebenso vertritt eine Minderheit die unbedingte Freiheit in Glaubensfragen, die auch die Freiheit beinhaltet, sich vom Islam ab- und einer neuen Religion zuzuwenden. Die Mehrheit der Theologen dürfte die Auffassung befürworten, dass ein Muslim in seinem Innersten Zweifel hegen darf, ohne dass dies negative Folgen für ihn hat, solange er nicht darüber spricht und versucht, andere vom Islam abzuwerben oder zu einer anderen Religion konvertiert. Tut er dies, wird das vielfach als politischer Aufruhr, Verrat und Entzweiung der muslimischen Gemeinschaft betrachtet, was bestraft und unterbunden werden muss.

Die Reaktion der Familien

Muslime, die in islamisch geprägten Gesellschaften Christen werden, haben daher mit mancherlei Schwierigkeiten zu kämpfen: Oft ist ihre Familie von diesem Schritt schockiert und versucht, sie umzustimmen, bedroht oder verstößt sie sogar. Der Konvertit kann enterbt werden, ihm kann die Zwangsscheidung drohen, seine Kinder können ihm entzogen werden und er verliert oft seine Arbeitsstelle oder sogar sein Zuhause. In dramatischen Fällen kann es soweit kommen, dass Mitglieder der Familie oder Gesellschaft selbst Hand an den Konvertiten legen und ihn schlagen oder versuchen, ihn umzubringen. Manche glauben, die gesellschaftliche Schande nicht ertragen zu können, andere hören vom Imam oder Mullah, dass es rechtens sei, Konvertiten zu töten. Trotz der hohen Kosten wenden sich Muslime dem christlichen Glauben zu; einige kehren jedoch wegen des großen gesellschaftlichen Drucks wieder zum Islam zurück, und zwar besonders dann, wenn sie keine christliche Gemeinschaft finden, die ihnen eine neue Heimat und Gemeinschaft bieten kann. Umgekehrt konvertieren nominelle oder auch praktizierende Christen zum Islam, teilweise im Zuge einer Eheschließung, aber nicht nur aufgrund dessen. Einige dieser Konvertiten gerieten unter den Einfluss radikaler Prediger und haben als Dschihad-Kämpfer in Afghanistan oder Pakistan von sich reden gemacht.

 

Orientierung 2012-01; 14.02.2012

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