„Viyana kapilarina dayandik“ (türk.: „Wir stemmten uns gegen die Pforten Wiens“) ist ein oft gehörter Satz in der heutigen Türkei, mit dem sich der Durchschnittstürke die glorreiche Vergangenheit des Osmanischen Reiches in Erinnerung ruft und dadurch die oft weniger rühmliche Gegenwart erträglicher werden lässt. Das größte Hindernis zur Evangelisierung der Türkei ist nicht der Islam sondern Nationalstolz. Die meisten Türken sehen die sechs Jahrhunderte dauernde Herrschaft der Osmanen im Nahen Osten und auf dem Balkan als eine Blütezeit des Islam an, die Dutzenden von Völkern, von Ungarn bis in den Jemen, von Tunesien bis Aserbaidschan eine segensreiche „Pax Ottomana“ beschert habe. Umso unverständlicher ist es für die heutigen Türken, dass das Image ihrer Vorfahren sowohl in den arabischen Ländern als auch besonders auf dem Balkan durchaus nicht das Beste ist. Begriffe wie Türkengefahr, Türkenplage, Unterdrückung, Zwangsbekehrungen, „the unspeakable Turk“ und „der kranke Mann am Bosporus“ werden auf dem Balkan wohl eher mit der osmanischen Vergangenheit assoziiert als Glanz und Glorie. Man kann sich heutzutage kaum vorstellen, welch große Rolle die Türkei noch bis zum ersten Weltkrieg in der europäischen Politik spielte. Während nur drei Prozent der heutigen Türkei in Europa liegen, waren früher die Besitzungen auf dem Balkan die ertragreichsten, wohlhabendsten und fortschrittlichsten Provinzen des Osmanischen Reiches. Hier ein kurzer geschichtlicher Überblick.

Die Anfänge des Osmanischen Reiches
Das Osmanische Reich begann sehr bescheiden als ein kleines Fürstentum im Westen Anatoliens. Es war einer von mehreren Pufferstaaten, die die Seldschuken, die damaligen Beherrscher der islamischen Welt, gegen das Byzantinische Reich aufgebaut hatten. Der Fürst Osman (1258-1326) hatte der Legende zufolge einen Traum, in dem er einen riesigen Baum aus seinen Lenden aufragen sah, und tatsächlich saß bis zum Ende des Osmanischen Reiches im Jahre 1922 in ununterbrochener dynastischer Folge stets einer seiner Nachkommen auf dem Sultansthron. Osman eroberte die Stadt Bursa von den Byzantinern und machte sie zur Hauptstadt seines neuen Staates. Sein Sohn Orhan konnte fast ganz Westanatolien unter seine Herrschaft bringen. Wichtiger jedoch war, dass der byzantinische Kaiser ihm erlaubte, die Meeresenge der Dardanellen zu überqueren (ca. 1354), um anschließend in einer erfolgreichen Schlacht nach der anderen den gesamten Balkanraum einzunehmen. Dies war eine politische Fehlentscheidung von enormer geschichtlicher Tragweite. Der Grund war die Bedrohung durch ein wieder erstarktes Bulgarenreich, das ganz offen die byzantinische Kaiserkrone begehrte. So führte die Uneinigkeit zweier christlicher Reiche letztendlich für beide zum Untergang. Gemeinsam hätten sie ohne weiteres die Osmanen besiegen und so die „Türkengefahr“ im Keim ersticken können.

Die Türken vor Wien
In den folgenden 180 Jahren fielen die Balkanländer wie Dominosteine: 1365 Adrianopel (Edirne), 1389 Serbien (Schlacht auf dem Amselfeld), 1396 Bulgarien, 1453 Konstantinopel, 1460 Griechenland, 1463 Bosnien, 1478 Albanien, 1498 Montenegro, 1526 Ungarn. 1529 kam es dann zur ersten Belagerung Wiens unter Süleyman dem Prächtigen, die aber wegen eines frühen Wintereinbruchs aufgegeben werden musste. Wien war damals nicht die Hauptstadt Österreichs, sondern eine Bastion des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und das erste Ziel der Osmanen auf dem Weg zum Rhein, ja, zur völligen Eroberung des christlichen Abendlandes. Die treibende Kraft hinter ihren militärischen Erfolgen war die Elitetruppe der Janitscharen. Die Soldaten dieser Truppe wurden schon als Jugendliche meist aus christlichen Familien verschleppt und zum Islam zwangskonvertiert. Während ihrer Dienstzeit durften sie nicht heiraten und waren so ganz und gar dem Sultan unterstellt. Diese „Knabenlese“ hat sich tief in die Psyche der Balkanvölker eingegraben und ist bis heute ein Grund zur Verbitterung. Religiöse Motive spielten in den folgenden 150 Jahren des Tauziehens zwischen den Osmanen und europäischen Mächten eine wichtige Rolle. Während die Päpste den Konflikt mit den „muselmanischen“ Türken als Kreuzzug darstellten, fühlten sich die Sultane als Gazis (Kämpfer für die Sache Gottes), als Allahs Schwert im Dschihad mit den Ungläubigen. Darüber hinaus kann man durchaus argumentieren, dass es gerade die Bedrohung durch die Türken war, die die Reformation rettete. Kaiser Karl V. brauchte die Unterstützung seiner protestantischen Untertanen im Kampf gegen eine Allianz zwischen den Franzosen und Osmanen. 1683 kommt es zur zweiten Belagerung Wiens. In zwei Monaten gelingt es den Osmanen, die Befestigungen zu verwüsten, und die verteidigenden Truppen unter Graf Ernst Rüdiger von Starhemberg stehen kurz vor der Kapitulation, als ein in letzter Sekunde zusammen gestelltes Heer unter Führung des polnischen Königs Jan III. Sobieski auf dem Kahlenberg, nördlich von Wien, auftaucht. Es fällt den osmanischen Truppen unter Kara Mustafa in den Rücken, woraufhin diese bis nach Belgrad flüchten. Dort findet Kara Mustafa den Tod (durch Erdrosselung mit einer seidenen Schnur). Die Wiener weihen ihre Stadt zum Dank für die erfolgreiche Verteidigung der „Gottesmutter“ Maria.

Das Ende des Osmanischen Reiches
Nach dieser erfolglosen Belagerung setzt der unaufhaltsame Niedergang des osmanischen Reiches und eine Periode der Kriege mit den Habsburgern und mit Russland ein, die letztendlich auf dem Balkan zur Unabhängigkeit der modernen Nationalstaaten führt: 1813 Serbien, 1832 Griechenland, 1862 Rumänien, 1878 Bulgarien. Nach dem ersten Weltkrieg verliert die Türkei auch noch die letzten europäischen Besitzungen mit Ausnahme des südöstlichen Zipfels des Balkans, des Hinterlandes Istanbuls. Auch nach dem Ende des osmanischen Reiches bleiben aber in manchen Gegenden des Balkans islamische Minderheiten zurück. – Während der mancherorts über ein halbes Jahrtausend dauernden osmanischen Herrschaft verstanden sich die orthodoxen Kirchen als Bewahrerinnen von christlicher und nationaler Tradition. Für die Völker auf dem Balkan ist die osmanische Vergangenheit ein Trauma, das sogar bis heute nicht ganz verarbeitet ist, das aber auch bequemerweise immer wieder hervorgekramt wird, wenn es darum geht, den Nationalstolz zu schüren. Milosewitschs berühmte Rede zur 600-Jahrfeier der Schlacht auf dem Amselfeld verführte die Serben zu einem verheerenden Bürgerkrieg. Bulgarische Schulen veranstalten regelmäßig Ausflüge in die Stadt Batak, in der 1876 von den Türken angeworbene Söldnertruppen ein Blutbad unter der Bevölkerung anrichteten: 5.000 Zivilisten, meist Frauen und Kinder wurden geköpft. Die Gebeine der Hingerichteten sind heute noch in der Sveta Nedelya Kirche zu sehen, und bulgarischen Kindern wird so Türkenhass eingeimpft. Dieses Feindbild steht ironischerweise in krassem Gegensatz zum Image der heutigen Türkei: die türkische Wirtschaft boomt, und türkische Firmen und Waren sind in allen Balkanländern allgegenwärtig. Die türkischen Ferienorte am Mittelmeer sind oft beliebter als Ziele im eigenen Land, und türkische Seifenopern sind der letzte Schrei. Eine zielstrebige Aussöhnung, wie z. B. zwischen Frankreich und Deutschland nach den Weltkriegen, findet nicht statt. Es bleibt abzuwarten, ob die Brüsseler EU-Bürokratie, die ja schon fast den gesamten Balkanraum „erobert“ hat, in der Lage sein wird, die uralten und immer wieder neuen ethnischen Spannungen endgültig zu beseitigen. Die frohe Botschaft Jesu scheint mir da doch eine bessere Lösung zu sein.

Orientierung 2013-04; 05.09.2013
Sie dürfen diesen Artikel frei kopieren unter Angabe der Herkunft: www.orientierung-m.de