Muslime reden in der Regel nicht gern von islamischer „Mission“, denn Gesandte (= Missionare) Gottes sind eigentlich nur einige der wichtigsten Propheten. Mit der Sendung Mohammeds, des „Siegels der Propheten“ (Sure 33,40) und der Herabsendung des Koran ist die göttliche Mission zum Abschluss gekommen. Dennoch ist der Islam in dem Sinne eine „missionarische“ Religion, dass er auf Ausbreitung angelegt ist. Er beansprucht universale Gültigkeit (Sure 34,28). Sein Ziel ist die Aufrichtung der islamischen Ordnung bzw. Herrschaft über die ganze Welt und über alle Lebensbereiche aller Menschen. Diesem Ziel dienen die verschiedenen Formen oder Stufen des „Dschihad“, der Anstrengung für die Sache Allahs. Dschihad kann passiver Widerstand oder sogar nur innere, gedankliche Verurteilung einer unislamischen Handlungsweise sein, aber auch verbale Angriffe gegen andere, als verkehrt angesehene Religionen bis hin zum bewaffneten Kampf umfassen. „Da`wah“ ist eine Form des Dschihad. Sie kann von Muslimen als „Dschihad mit Worten“ bezeichnet werden (Ömer Öngüt, Islam, Istanbul 1996, S. 334f). Die Grundbedeutung des arabischen Wortes „da`wah“ ist: Ruf. Es kann außerdem Aufruf, Aufforderung, Einladung, Propaganda etc. bedeuten. Im Kontext des islamischen Rechts ist „Da`wah“ der Ruf oder die Einladung an Einzelne oder Gruppen von Menschen, den Islam anzunehmen bzw. sich Allah zu unterwerfen. Dabei werden sie nach islamischem Verständnis aufgefordert, zum Islam zurückzukehren, da ja alle Menschen eigentlich als Muslime geboren werden. Als koranische Grundlage für die Da`wah wird oft Sure 16,125 zitiert: „Rufe zum Weg deines Herrn mit Wahrheit und guter Ermahnung und streite mit ihnen auf die beste Art…“

Unterschiede zwischen biblischer „Mission“ und islamischer „Da`wah“

Aus der Tatsache, dass der Islam innerweltlich die Herrschaft Allahs aufrichten und ausweiten will und keine strikte Trennung von Religion und Staat kennt, ergeben sich grundlegende Unterschiede zwischen der islamischen „Da`wah“ und dem biblischen Missionsverständnis:

1. Nach biblischem Verständnis kann die Gemeinde Jesu Christi nur durch „Mission“ aufgebaut und ausgebreitet werden.

„Da`wah“ ist eine Form der Ausbreitung des Islam unter vielen anderen.

2. Das Ziel biblischer Missionstätigkeit ist, dass Menschen die Botschaft von der Erlösung durch Jesus Christus hören und zum persönlichen Glauben an ihn kommen, um dadurch ewiges Leben zu empfangen und in seine Gemeinde eingefügt zu werden.

Im Islam liegt der Schwerpunkt nicht auf persönlicher Gläubigkeit oder gar der festen Zusage des ewigen Heils (darüber wird ja Allah erst am Tag des Gerichts entscheiden), sondern darauf, dass die islamische Ordnung das öffentliche Leben beherrscht. Deshalb ist es im Blick auf die „Schriftbesitzer“ (Christen, Juden und Zoroastrier) ausreichend, wenn sie dem Machtbereich des Islam unterworfen sind; als Einzelne müssen sie nicht zum Islam übertreten, sondern können – im Rahmen der islamischen Ordnung! – ihren Glauben beibehalten. Da man ungern auf die von ihnen zu zahlende Kopfsteuer verzichten wollte, wurden sogar zeitweilig, wie z. B. im Osmanischen Reich, Massenübertritte zum Islam gar nicht gern gesehen. (Nur die eigentlichen Polytheisten müssen bis zur Annahme des Islam bekämpft werden – was allerdings auch nicht immer und überall geschah.) Da`wah wendet sich oft in besonderer Weise an Personen in Schlüsselstellungen, um möglichst wirksam gesellschaftliche Strukturen beeinflussen zu können.

3. Mission im biblischen Sinn geht nicht über die Verkündigung des Wortes Gottes hinaus; alles Weitere muss sie dem Wirken des Heiligen Geistes und der Entscheidung jedes einzelnen Zuhörers überlassen. Laut Sure 9,60 können Mittel aus der sogenannten „Almosensteuer“ (zakat) unter anderem verwandt werden für Menschen, „die (für die Sache des Islam) gewonnen werden sollen“ (R. Paret). Das entspricht auch der Praxis Mohammeds. Im Islam wird (unter Hinweis auf Sure 2,256) oft betont, dass auf die Schriftbesitzer kein Zwang ausgeübt werden dürfe, Muslime zu werden. Dennoch kann es auch ihnen gegenüber Gründe zur Gewaltanwendung geben: erstens um zu verhindern, dass Muslime in fremden Ländern der Unterdrückung, Verfolgung oder Verführung (evtl. durch christliche Mission) ausgesetzt werden; zweitens um die Verhinderung islamischer Missionstätigkeit in nicht-islamischen Ländern zu bekämpfen (Khoury, Was sagt der Koran zum Heiligen Krieg?, S. 18). So kommt sehr nahe hinter dem „Wort“ das „Schwert“ zum Vorschein. Es gibt keine eindeutige und vor allem keine unüberschreitbare Grenze zwischen friedlicher Einladung zum Islam und der Androhung und Anwendung von Gewalt. Das heißt nicht, dass der Islam sich in vielen Gegenden nicht auf friedlichem Wege ausgebreitet hat: Oft waren es muslimische Händler und Reisende, die durch ihr Vorbild und ihre Verkündigung Menschen in ihrer Umgebung bewogen, den Islam anzunehmen.

4. Biblische Mission wendet sich vor allem an Herz und Gewissen eines Menschen, um ihm zu zeigen, dass er als Sünder Vergebung braucht, und um ihn einzuladen, die Versöhnung mit Gott als Geschenk Seiner Gnade anzunehmen. Da`wah richtet sich stärker an Verstand und Willen eines Menschen, um ihn von der Vernünftigkeit des reinen islamischen Monotheismus und der heilsamen Ordnung des islamischen Gesetzes zu überzeugen und zur Annahme des Islam aufzufordern. Da`wah geschieht häufig in Form von Informationsveranstaltungen („Islamischen Wochen“ etc.) und Debatten. Muslime in Europa versuchen dabei, ein möglichst positives Bild vom Islam zu zeichnen, zum Teil indem sie Sachverhalte, die für westliche, humanistisch geprägte Menschen anstößig sein können (z. B. die Stellung der Frau, die Strafen für den Abfall vom Islam), umgehen oder entschärfend interpretieren. Andererseits benutzen sie die Schriften bibelkritischer „christlicher“ Theologen, um den christlichen Glauben als unvernünftig und überholt darzustellen.

 

Orientierung 1997-03; 15.06.1997

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