Ausgangssituation

Nachdem Mohammed unerwartet rasch am 8. Juni 632 nach Christus gestorben war, ohne eine Nachfolgeregelung getroffen zu haben, bildeten sich in der jungen muslimischen Gemeinde hierzu unterschiedliche Positionen heraus. Daraus folgte die geschichtlich und theologisch folgenschwerste Spaltung des Islams: „Sunniten“ und „Schiiten. Mit „Schiiten“ sind die Anhänger Alis (schi’at Ali = „Partei“ des Ali), des Cousins und Schwiegersohns Mohammeds gemeint, die als Nachfolger Mohammeds einen direkten Abkömmling des Propheten forderten, während die sunnitische Mehrheit zwar auch einen Nachfolger aus Mohammeds Stamm, den Quraisch verlangte, aber gleichzeitig dessen Wahl durch einen Rat (arab. schura) und seine öffentliche Huldigung (arab. bay’a) forderte.

Ringen um die Macht

Nach Meinung der Schiiten konnte nur auf einem Verwandten Mohammeds die Segenskraft des Propheten liegen. Außerdem, so argumentierten die Schiiten, habe Gott selbst Ali zum Nachfolger auserwählt und dies Mohammed vor seinem Tod mitgeteilt, eine Ansicht, die Sunniten nicht teilten. Da alle leiblichen Söhne Mohammeds bereits vor ihm verstorben waren, wären die nächsten leiblichen Verwandten Mohammeds seine Enkel al-Hasan und al-Husain gewesen, die allerdings beim Tod Mohammeds noch Kinder im Alter von etwa 6 und 8 Jahren waren. Daher bestimmten die Schiiten Mohammeds Schwiegersohn Ali zum Anwärter auf das Kalifat. Ali konnte sich jedoch nicht durchsetzen. In seiner Abwesenheit wurde noch 632 Abu Bakr zum ersten Kalifen (regierte 632-634 n. Chr.) gewählt, danach folgten Umar (634-644) und Uthman (644-656). Erst im Jahr 656 kam Ali (656-661) an die Macht. Nach schiitischer Auffassung waren die drei ersten Kalifen „unrechtmäßige“ Kalifen und ihre Wahl eine schwere Sünde. Daher nahm die Schia von Anfang an eine ablehnende Haltung gegenüber den sunnitischen Kalifen-Dynastien der Umayyaden und Abbasiden ein. Die ersten drei Kalifen werden bei schiitischen Feierlichkeiten verflucht.

Geschichte des Leidens

Nachdem Ali 661 ermordet worden war, versuchten die Schiiten erneut, die Macht an sich zu reißen. Der Prophetenenkel al-Hasan erklärte jedoch seinen Verzicht auf das Kalifat, und al-Husain fiel im Jahr 680 in der berühmten Schlacht von Kerbela im heutigen Irak, womit alle direkten männlichen Nachfahren Mohammeds ausgelöscht waren. Al-Husain wurde zum Prototyp des schiitischen Märtyrers. Im Gedenken an Kerbela begehen die Schiiten am 10. Tag des Monats Muharram, dem Aschura-Tag, umfangreiche Trauerfeierlichkeiten mit Prozessionen und Geißlergruppen. Wer bei den Passionsspielen und Umzügen Tränen für al-Husain vergießt, erhält Teil an seiner Erlösung, die er durch sein Leiden und seine Fürbitte für die Gläubigen im Gericht erwirkt. Leiden wird in der Geschichte der Schia zum Leitmotiv, das nach Alis und al-Husains Tod im – wie Schiiten meinen – Märtyrertod aller schiitischen Imame (Leiter der islamischen Gemeinschaft) in der Geschichte seine Fortsetzung findet. Die Gräber von Ali, al-Hasan und al-Husain sind im schiitischen Volksislam für viele bedeutendere Wallfahrtsorte geworden als Mekka.

Endzeithoffnung

Nachdem die beiden Prophetenenkel al-Hasan und al-Husain im Kampf um das Kalifat gescheitert waren, verlagerten die Schiiten ihre Hoffnung auf Herrschaft auf die Endzeit, in der Mahdi (der „Rechtgeleitete“) als Erlöser sichtbar aus der Verborgenheit wiederkommen und ein Friedensreich aufrichten werde. Seinem Auftreten werden Sonnen- und Mondfinsternisse, Erdbeben, Heuschreckenplagen und Wasserfluten vorausgehen. Dann werden sich falsche Mahdis erheben und Kriege gegeneinander führen. Am Ende sollen Stürme die Erde reinigen und alle Krankheiten von den wahren Gläubigen nehmen. Danach soll der wahre Mahdi in Mekka in der Kaaba erscheinen und alle sich ihm widersetzenden Ungläubigen erschlagen. Unter seiner Herrschaft wird das Paradies auf Erden aufgerichtet werden.

Lehre

Das herausragende Kennzeichen schiitischer Lehre ist der Glaube an den Imam. Er ist der oberste Führer der Gemeinde, ein von Gott auserwählter Leiter, eine Art Vertreter des Propheten, von dem er blutsmäßig abstammen muss. Er interpretiert die Offenbarung des Koran, vor allen Dingen dessen verborgenen Sinn, den die Gläubigen selbst nicht verstehen können. Er ist eine Art Mittler zwischen Gott und der Gemeinde, in seinen Lehrentscheidungen unfehlbar und sündlos und hat übernatürliches Wissen. Die Aussprüche der Imame besitzen für Schiiten dieselbe Lehrautorität wie der Koran. – Die Sunniten besitzen eine solche unfehlbare Lehrinstitution nicht. In Rechtsfragen sind die Unterschiede zwischen Sunniten und Schiiten erstaunlich gering. Im Wortlaut des Gebetsrufs weichen sie von den Sunniten geringfügig ab. Erwähnenswert sind die Institution der Zeitehe auf schiitischer Seite (eine vereinfachte Form der Eheschließung von begrenzter Dauer mit Entlohnung der Ehefrau), sowie die Tatsache, dass nach schiitischem Recht Männer und Frauen zu gleichen Teilen erben. Die Schiiten sind aufgespalten in mehrere Splittergruppen, von denen die Zwölferschiiten die bedeutendste Gruppierung ist. Darüber hinaus existierten die Viererschiiten, die Zayditen, die Siebener– und Fünferschiiten.

Weltweite Verteilung

Die Sunniten stellen heute mit rund 90% weltweit die Mehrheit der Muslime dar, die Schiiten eine Minderheit von 8-9%. Der Iran ist das einzige islamische Land, in dem die zwölferschiitische Lehre Staatsreligion ist. Heute leben Schiiten außer im Iran (91%) in Syrien, dem Irak (55%), dem Libanon (35-40%), der Türkei, Afghanistan (15-20%), Saudi-Arabien (5%), den Golfländern, Indien und Pakistan (10-15%).

 

Orientierung 2001-02; 15.04.2001

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