Entstehung

Nach Mohammeds unerwartetem Tod am 8. Juni 632 in Medina stand die islamische Gemeinschaft unvermittelt vor der Frage, wer religiöser wie politischer Führer der „Umma“, der muslimischen Gemeinde, werden sollte. Diese Frage führte unter den Anhängern Mohammeds zu einem tiefgreifenden Konflikt und schließlich zu einer Spaltung in mehrere Gruppierungen. Eine kleinere Gruppierung, die später als „Schiiten“ (schia = Partei) bezeichnet wurde, forderte einen direkten Verwandten oder Nachfahren Mohammeds, da nur auf ihm die Segenskraft des Propheten ruhe. Allerdings war am Todestag Mohammeds keiner seiner Söhne mehr am Leben und seine beiden männlichen Enkel al-Hasan und al-Husain waren noch Kinder. Eine zweite Gruppe bildeten die Charidschiten (die Ausziehenden). Sie vertraten die gegenteilige Auffassung, nämlich, dass der Nachfolger Mohammeds nur mehr der fähigste Mann der Gemeinschaft sein sollte, ganz unabhängig von seiner Herkunft und Abstammung. Die dritte und weitaus stärkste Gruppierung, die der Sunniten (die Leute der Tradition), verfocht, dass ein Mitglied des Stammes Mohammeds Kalif (Nachfolger) werden sollte – also ein Quraisch – der aber zugleich durch einen Rat gewählt und durch einen Treueeid bestätigt werden sollte, also Führungsstärke und Abstammung miteinander verband. Die Sunniten konnten sich im Kampf um die Nachfolge Mohammeds durchsetzen und stellten die ersten drei Kalifen, die weltliche und geistliche Herrscher zugleich waren: Abu Bakr (regierte 632-634), ‚Umar (634-644) und ‚Uthman (644-656). Erst danach konnten die Schiiten kurzzeitig einen ihrer Leute, ‚Ali ibn Abi Talib (656-661), den Neffen und Schwiegersohn Mohammeds, als vierten Kalifen in Position bringen. Nach seiner Ermordung jedoch sicherten sich die Sunniten das Kalifat dauerhaft und machten es für die Dynastien der Umayyaden (661-749) und der Abbasiden (750-1258) für Jahrhunderte erblich. Die Schiiten wurden politisch und religiös in eine Minderheitenposition abgedrängt und von der sunnitischen Mehrheit als „Abtrünnige“ häufig diskriminiert oder sogar hart verfolgt, weshalb sie die Lehre von der „Taqiya“ (Vorsicht, Geheimhaltung) entwickelten.

Theologie und Herrschaft

Die sunnitische Theologie hält am nichthinterfragbaren Vorbild Mohammeds und der vier rechtgeleiteten Kalifen fest, deren Aussprüche und Taten in der Überlieferung (arab. hadith) niedergelegt sind. Die fünf Säulen des Islam – Bekenntnis, Gebet, Fasten, Almosen, Wallfahrt – gelten Sunniten als verbindlich, der Koran als unfehlbares Gotteswort, die Scharia als ewiges Gottesgesetz – auch wenn man sich selbst vielleicht nicht immer an die Vorschriften hält. Im sunnitischen Islam gilt nur der Koran als unfehlbar, nicht aber der Kalif. Er ist nur der Erfüller des Willens Gottes auf Erden. Schiiten betrachten den obersten Leiter der schiitischen Gemeinschaft, den Imam, dagegen als unfehlbar. Der sunnitische Herrscher erlässt theoretisch keine Gesetze, sondern bringt lediglich das Gesetz Gottes zur Anwendung und ermöglicht seinen Untertanen so, nach der Scharia ein gottgefälliges Leben zu führen. Dafür gebühren ihm Gehorsam und Loyalität. Keine Einigkeit besteht unter muslimischen Theologen in der Frage, was zu tun sei, wenn der Herrscher diese Rolle nicht mehr erfüllt – darf er dann gewaltsam gestürzt werden? Der radikal-politische Islam vertritt heute, dass dann zum Wohle der islamischen Gemeinschaft sogar die Pflicht besteht, einen „gottlosen“ Herrscher zu beseitigen.

Einfluss

Der sunnitische Islam breitete sich nach Mohammeds Tod rasch bis nach Spanien und Zentralasien aus. Auch theologisch behielten die Sunniten die Oberhand. Sie wurden als Gründer der vier bedeutendsten Rechtsschulen des Islam tonangebend in der Ausformulierung des islamischen Gesetzes, der Scharia. Zwar wurde die berühmte, rund 1.000 Jahre alte al-Azhar-Universität in Kairo ursprünglich von Schiiten gegründet, heute ist sie jedoch eine Hochburg sunnitisch-konservativer Lehre und entsendet jährlich Tausende Absolventen in jeden Winkel der Erde. Auch die einflussreichen Lehr- und „Missions“-Institute Saudi-Arabiens zur Verbreitung des Islam sind rein sunnitisch geprägt. Staatsreligion ist der Schiismus heute nur im Iran. Vorherrschend ist der Schiismus heute nur im Iran und Irak, in Oman und Bahrain, im Libanon und in Aserbaidschan. Der Anteil der Sunniten macht gegenwärtig ca. 85-88% aller Muslime aus. Sunniten – allerdings nicht nur sie! – sehen sich häufig als die wahren Erben der Tradition Mohammeds. Gegenüber anderen Muslimen haben sie sich oft unduldsam gezeigt. Aus der gegebenen politisch-religiösen Machtfülle heraus konnte z. B. das sunnitsch-wahhabitische Saudi-Arabien 1974 erwirken, dass die um 1900 in Indien entstandene Ahmadiyya-Bewegung, die sich selbst als islamisch versteht, aus der Gemeinschaft der Muslime ausgeschlossen und zur Ketzerbewegung erklärt wurde. Aus derselben Haltung heraus vereinnahmt der sunnitische Mehrheitsislam der Türkei seine bedeutende alevitische Minderheit als „sunnitisch“. Dass sich alle Aleviten nicht als Sunniten und ein gewisser Teil sogar gar nicht als Muslime verstehen, sondern als eigene Religionsgemeinschaft, wird ausgeblendet.

Die Bandbreite des sunnitischen Islam

Innerhalb des sunnitischen Islam ist das theologische Spektrum groß. Vertreter des sunnitischen Islam können gleichzeitig Mitglieder eines Mystikerordens sein, in dem sie durch Schweigen, Gebete, Musik, Gesang oder Tanz Gottes gedenken und sich in ihn versenken. Sunnitische Muslime können liberal, modernistisch oder konservativ denken, einen mit volkstümlich-magischen Elementen durchsetzten Islam praktizieren, eine moderat-ethische oder politische Interpretation des Islam vertreten oder – sofern sie sich auf Mohammeds Vorbild berufen und zum Kampf gegen die Ungläubigen aufrufen – sogar extremistisch ausgerichtet sein. Die weltweit mitgliederstärksten extremistischen Organisationen wie z. B. die Muslimbruderschaft sind dem sunnitischen Islam zuzurechnen; aber auch die neuen Reformansätze einiger heutiger türkischer Theologen kommen aus dem Sunnismus. Nicht der sunnitische Islam an sich ist extremistisch, sondern die jeweilige selektiv-politische Interpretation seiner Quellen.

Fazit

Schiiten und Sunniten sprechen sich bis heute nicht selten gegenseitig den richtigen Glauben ab; Schiiten haben die sunnitischen Kalifen häufig an hohen Festtagen verflucht. Die tiefgreifende Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten, die zu Spannungen, Hass, Gewalt und Unterdrückung führte, hat bisher keine grundlegende theologische oder menschliche Versöhnung gefunden. Die islamische Theologie kennt wohl den Aufruf zur Solidarität unter Muslimen, aber nicht zur brüderlichen Liebe oder Versöhnung durch Verzicht auf eigenes Recht. Der sunnitische Islam ist ein festgefügtes Lehrgebäude mit sehr vielen Einzelvorschriften, die wenig Raum lassen für ein individuelles Islamverständnis, insbesondere für den, der die zahlreichen Anweisungen aus den Überlieferungssammlungen ernst nimmt. Dennoch befolgt nur ein Teil der sunnitischen Muslime alle diese Vorschriften zu Gebet und Fasten, zu Speisen und Kleidung, zu Almosen, Alkoholverbot und der generellen Nachahmung Mohammeds. Wird Gott mir Sünder gnädig sein? Darauf gibt auch der sunnitische Islam nur die Antwort „insch’allah“ – wenn Gott es will. Das macht auch viele Sunniten suchend und fragend.

 

Orientierung 2009-01; 15.02.2009

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