In welcher Weise Freunde oder Fremde als Gäste aufgenommen werden, ist ein wichtiges Thema in vielen Kulturen. Im Orient hat Gastfreundschaft eine lange Tradition, wie wir es z. B. aus biblischen Berichten des Alten Testaments wissen.

Gastfreundschaft der Beduinen

Auch auf der Arabischen Halbinsel spielte Gastfreundschaft zur Zeit Mohammeds eine wichtige Rolle. Besonders unter den Beduinen in den Wüstenregionen galt es als eine „heilige Pflicht“, Gastfreundschaft zu gewähren. Als Gast aufgenommen, beherbergt, mit Nahrung und vor allem mit Wasser versorgt und evtl. auch vor Feinden geschützt zu werden, konnte überlebensnotwendig sein. – Aus diesem Lebenskontext stammt wohl ein arabisches Sprichwort, das etwa Folgendes bedeutet: „Du kannst (zur Not) im Blick auf alles (worum du gebeten wirst) ‚Nein’ sagen, nur nicht im Blick auf Wasser.“

Abrahams Gastfreundschaft

Diese Wertschätzung der Gastfreundschaft als Verpflichtung, aber ebenso als Recht, spiegelt sich auch in Koran und Hadithen. Zum Teil wird dabei Bezug genommen auf biblische Berichte. In einem Hadith von Al-Muwatta (Hadith Nummer 49.4) wird Abraham bezeichnet als „der Erste, der dem Gast Gastfreundschaft gewährte“. – Sure 51,24-30 (ähnlich Sure 11,69-73 und 15,51-56) meint wohl das gleiche Ereignis, das in 1. Mose 18,1-15 geschildert wird: Drei Gäste kommen zu Abraham; er beeilt sich, ein gemästetes Kalb für sie zubereiten zu lassen – doch (anders als in der Bibel – V. 8) die Gäste greifen nicht zu. In einer Anmerkung zu dieser Stelle (Sure 51,26f) erläutert A. Yusuf Ali in seiner Koranausgabe: „Entsprechend den Gesetzen der Gastfreundschaft steht ein Fremder unter deinem Dach unter deinem Schutz, aber wenn er es ablehnt zu essen, lehnt er deine Gastfreundschaft ab und hält sich selber frei von allen Bindungen zwischen Gast und Gastgeber.“ Angebotenes Essen nicht anzurühren, löst zumindest Fragen aus, warum wohl ein Gast sich so ablehnend verhält, evtl. sogar Befürchtungen, dass er mit bösen Absichten gekommen sein könnte. – Da Abrahams Gäste Engel waren, konnten sie nach islamischer Auffassung nicht bei ihm essen, doch sie beruhigten ihn: „Fürchte dich nicht“ und kündigten ihm die Geburt eines Sohnes an. Hier wird deutlich, dass Gastfreundschaft, besonders Bewirtung oder gemeinsames Essen, nicht nur ein Versorgen mit Nahrung bedeutet, sondern eine wechselseitige Beziehung begründet. Angebotenes Essen oder Trinken völlig abzulehnen – weil man gerade weder Hunger noch Durst hat, das Angebotene nicht mag … – bewirkt beim Gastgeber in der Regel ein ungutes Gefühl. Denn er empfindet, dass dadurch auch die menschliche Gemeinschaft und das Eingehen einer Beziehung verweigert werden. Empfangene und angenommene Gastfreundschaft kann auch eine gewisse Verpflichtung einschließen, sich entsprechend „erkenntlich zu zeigen“. Ein älterer marokkanischer Mann bewirtete einen Gast freundlich mit Essen, bevor er ihn bat, einige Papiere für ihn auszufüllen. – Nach traditionellem orientalischem, nicht nur islamischem Verständnis verpflichten sich Gast und Gastgeber auch über die Zeit des Besuchs hinaus, einander beizustehen und einander zu schützen, jedenfalls einander keinen Schaden zuzufügen.

Gastfreundschaft als Pflicht

In Sure 2,177 und 4,36 werden Muslime ermahnt, unter anderem zu den Reisenden gut zu sein und sie zu unterstützen. In einem Hadith (Abu Dawud, Hadith Nummer 3741) heißt es: „Der Prophet (Friede sei auf ihm!) sagte: Es ist eine Pflicht für jeden Muslim, einem Gast für eine Nacht Gastfreundschaft zu gewähren. Wenn jemand am Morgen in sein (d. h. des muslimischen Gastgebers) Haus kommt, ist das ein Recht, das ihm zusteht. Wenn er will, mag er es nutzen, und wenn er will, mag er darauf verzichten.“

In einem anderen Hadith (Al-Muwatta, 49.22) wird weiter ausgeführt: „Wer an Allah und an den Jüngsten Tag glaubt, soll großzügig zu seinem Gast sein. Er heißt ihn für einen Tag und eine Nacht willkommen und seine Gastfreundschaft gilt für drei Tage. Was darüber hinausgeht, ist ein (freiwilliges) Almosen <sadaqah>. Es ist einem Gast nicht erlaubt <halal>, so lange zu bleiben, bis er zu einer Last wird.“ (Ähnlich bei Abu Dawud, 3740)

Gastfreundlich zu sein, ist für gläubige Muslime auch deshalb eine Pflicht, weil ihr Prophet Mohammed (als ihr Vorbild) selber sehr gastfrei war. Nach der Rechtssammlung Fiqh-us-Sunna kann jedoch die verpflichtende Armensteuer <zakat> nicht eingesetzt werden, um Aufwendungen im Zusammenhang mit Gastfreundschaft zu bestreiten (Fiqh 3.75b).

Gastfreundschaft als Rechtsanspruch

Einzelne Hadithen erwecken den Eindruck, dass es unter Umständen auch einen einforderbaren Rechtsanspruch auf Gastfreundschaft gebe. Uqbah bin Amir soll zu Mohammed gesagt haben: „Gesandter Allahs (Friede sei auf ihm!), wir kommen zu Leuten, die uns keine Gastfreundschaft gewähren, uns auch nicht bezahlen, was uns von ihnen zusteht, und wir nehmen nichts von ihnen.“ Mohammeds Antwort: „Wenn sie es für euch notwendig machen, es mit Gewalt zu nehmen, dann tut das!“ (Al-Tirmidhi, 4040 – ähnlich Al-Buchari, 3.641) Hier könnte es sich konkret um Leute gehandelt haben, die als Abgesandte Mohammeds unterwegs waren. In einem anderen Hadith (Abu Dawud, 3795) heißt es allgemein: „Wenn jemand als Gast bei Leuten ist, die ihm keine Gastfreundschaft bereiten, ist er berechtigt, von ihnen den Gegenwert der Gastfreundschaft zu nehmen, der ihm zusteht.“ Wie immer hier das Wort „nehmen“ zu verstehen ist („wegnehmen“ oder „ersatzweise in Empfang nehmen“): anscheinend gibt es ein gewisses Maß an Versorgung, das einem Gast in jedem Fall zusteht.

Wenn jemandem die Gastfreundschaft verweigert wurde, soll er darauf aber nicht in gleicher Weise reagieren. Jemand fragte Mohammed: „Gesandter Allahs (Friede sei auf ihm!), sage mir: wenn ich zu einem Mann komme, der mir keine Bewirtung oder Gastfreundschaft gewährt, und später kommt er zu mir – soll ich ihn bewirten, oder soll ich ihn behandeln, wie er mich behandelt hat?“ Er antwortete: „Nein, sondern bewirte ihn!“ (Al-Tirmidhi, 4248)

In den Hadithen zeigen sich gewisse Tendenzen, Gastfreundschaft als Pflicht und Recht fast „juristisch“ zu regeln. Einige Muslime scheinen ihre Gastfreundschaft auch entsprechend zu verstehen (wenn sie auf Worte des Dankes antworten, das sei ja nur ihre „Pflicht“ gewesen, mag das allerdings auch eine Geste der Bescheidenheit sein) oder sie mit religiösen Verdienstgedanken zu verbinden. Bei vielen erfahren wir jedoch Gastfreundschaft gepaart mit echter Herzlichkeit und wohltuender Großzügigkeit. Es würde uns als abendländischen Christen sicherlich nichts schaden, wenn wir bei ihnen „studieren“, wie das biblische Gebot der Gastfreundschaft verwirklicht werden kann.

 

Orientierung 2007-01; 15.02.2007

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