Warum der Islam sich bis heute schwertut, sich selbstkritisch zu betrachten

 

Die rationalistisch ausgerichtete Schule der Mutaziliten wurde ca. 100 Jahre nach Mohammed im 8. Jh. von Wasil ibn Ata gegründet (gest. 748 n. Chr.). Sie stellte die fünfte sunnitische Rechtsschule (neben Hanafiten, Malikiten, Hanbaliten, Schafiiten) dar. Die Mutaziliten-Schule wurde jedoch als Irrlehre verbannt und ging im 11. Jh. unter. Sie war durch griechisches (Aristoteles) und christliches Denken beeinflusst. Der Name Mutaziliten kommt von „die sich zurückziehen“ und kennzeichnet ihre abweichende Glaubensüberzeugung.

 

Lehre

Mutaziliten glaubten nicht an das Dogma der willkürlichen Allmacht Gottes. Gott handelt demnach vernünftig und kann mit der Vernunft erfasst werden. Gutes und Schlechtes kann klar definiert werden. Gott kann nicht böse, sondern nur gut handeln. Koranauslegung sei mit menschlichem Verstand möglich. Die Beschreibungen Gottes im Koran, in denen Gott „sieht, hört“ usw. seien nur ein bildhafter Vergleich, denn Gott bleibe hier und in der Ewigkeit unnahbar und habe keine Augen, Ohren oder Hände. Gott handelt logisch richtig und gerecht. Er gibt dem Menschen Handlungsfreiheit. Das sei die Voraussetzung für dessen Verantwortung für seine Taten, deren Konsequenzen der Mensch im Gericht Gottes tragen wird. Die Mutaziliten wandten sich gegen die absolute Vorherbestimmung. Doch die Ashariten (Gegenbewegung zu den Mutaziliten unter Leitung des islamischen Philosophen Al-Ashari) mit ihrer Lehre, wonach der Mensch keinen freien Willen habe und die Taten aller Menschen, ihre Zukunft, der Himmel und die Hölle vorbestimmt seien, konnten sich in der Geschichte gegen die Mutaziliten durchsetzen. Der Koran sei laut Mutaziliten von Gott erschaffen, also nicht ewig (wie von den Ashariten behauptet und heute von Muslimen vertreten). 827 n. Chr. wurde unter dem abbasidischen Kalifen al-Mamun das Staatsdogma eines erschaffenen Korans erlassen und eine 15-jährige Inquisition (mihna) wütete von 833 bis 848 n. Chr. gegen alle Muslime, die behaupteten, der Koran sei ewig, unerschaffen. Später kehrte sich die Verfolgung um.

Laut Mutaziliten kann sich die gemeinsame Überzeugung der islamischen Theologen (ijma) irren, und die Überlieferung (hadith) sei nicht mit dem Koran gleichwertig zu sehen.

Die Seldschuken (11. Jh.) und die Mongolen (ab 1220) machten den Lehren der Mutaziliten weitgehend ein Ende.

 

Selbstkritik

Durch die Mutaziliten konnten Entscheidungen von Islamgelehrten öffentlich kritisiert werden, weil sie ja der Vernunft unterworfen waren. Als unantastbares Dogma galt nur die „Einheit Gottes“ (Eingottglaube) und seine Gerechtigkeit. Die Freiheit des Menschen und die Auswirkungen seiner Taten bestimmen über den Eintritt ins Paradies oder in die Hölle. Da der Koran selbst auch nur erschaffen sei, konnte auch er kritisch betrachtet und diskutiert werden. Das ermöglichte eine innere Islamkritik sondergleichen. Der von Gott gegebene Verstand war bei diesen islamischen Freidenkern der oberste Maßstab. Obwohl man unter Muslimen noch heute hier und da manche Glaubensinhalte der Mutaziliten antreffen kann, wurde mit der Auslöschung ihrer Rechtsschule das Tor für eine weitergehende Selbstkritik in der islamischen Theologie geschlossen.

 

Orientierung 2009-04; 15.09.2009

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