Möglichkeiten und Grenzen – können und sollen wir uns im Gespräch mit Muslimen auf den Koran beziehen? Diese Frage wird von Christen sehr unterschiedlich beantwortet. Einer unserer Mitarbeiter nennt einige bedenkenswerte Gesichtspunkte:

Paulus, Prototyp und Vorbild jeden Missionars, schreckte nicht davor zurück, Brücken zu seinen heidnischen Zuhörern zu schlagen, indem er ihre Dichter und Philosophen zitierte und daran anknüpfte. Einzelne Worte dieser heidnischen Dichter und Philosophen sind auf diese Weise sogar Teil des inspirierten Bibeltextes geworden. Apostelgeschichte 17,28 und Titus 1,12 enthalten beispielsweise Zitate des kretischen Philosophen Epimenides, Apostelgeschichte 17,29 enthält ein Zitat des kilikischen Dichters Aratus. Wenn der große Heidenapostel dieses Mittel der Kommunikation benutzte, kann es nicht prinzipiell falsch sein.
Muslime betrachten den Koran als unmittelbar offenbartes Gotteswort, unverändert bis in unsere Tage überliefert und deshalb Wort für Wort gültig. Ein kritisches Hinterfragen auch nur einer Aussage wäre da schon beginnender Abfall vom Glauben. Können sich Christen bei der Verkündigung des Evangeliums auf diese bedingungslose Achtung stützen, die Muslime dem Koran entgegenbringen? Diese Frage kann mit JA und mit NEIN beantwortet werden.


Voraussetzungen der Koranbenutzung

Dass jemand den Koran zumindest einmal durchgelesen haben sollte, bevor er auf einzelne Aussagen verweist, versteht sich von selbst. Auch Christen finden es unfair, wenn Muslime Widersprüche in der Bibel zu zeigen versuchen, aber noch nicht einmal das Neue Testament durchgelesen haben. Wichtigste Voraussetzung ist allerdings, jeden falschen Eindruck zu vermeiden. Der christliche Gesprächspartner muss respektvoll deutlich machen, dass er zwar im Koran viele zutreffende Aussagen findet, den Koran aber nicht als Gottesoffenbarung betrachtet. Weiter muss er vermitteln, dass das eigene Motiv für die Beschäftigung mit dem Koran der Wunsch war, Muslime, ihre Glaubensinhalte und ihr Denken besser zu verstehen. Wo diese Offenheit im Gespräch möglich ist, und Muslime das Gespräch auch unter diesen Voraussetzungen zu führen bereit sind, können Aussagen des Koran herangezogen werden. Ziel muss dabei aber immer sein, vom Verweisen auf den Koran weg zum gemeinsamen Lesen der Bibel zu gelangen.

Möglichkeiten der Koranbenutzung

Man kann erstens auf bestimmte Aussagen des Koran verweisen, die mit Inhalten der Bibel übereinstimmen, aber deutlich der zeitgenössischen islamischen Theologie widersprechen. Damit kann echtes Nachdenken angeregt werden.
Ein Beispiel hierfür wäre der Sündenfall und seine Folgen (vergl. Sure 2,36-38; Sure 7,20-25; Sure 20,115-121). Hier wird erkennbar: obwohl Gott gemäß dem Koran Adam seine Sünde vergab, musste das erste Menschenpaar trotzdem das Paradies verlassen und fortan in einer keineswegs idealen Welt leben. Eine Welt, in der das Leben durch den Tod zeitlich befristet ist, Feindschaft herrscht, der Mensch unter Sonnenhitze und Kälte zu leiden hat und ständig in Gefahr ist irrezugehen. (vergl. 1. Mose 1,30-31; 3; Röm. 5:12; 8:18-22) Als einem Muslim im Gespräch dieser Zusammenhang zwischen Sündenfall und dem Verlust des Paradieses dargelegt wurde, begriff er schlagartig die Konsequenzen. Er wusste sich nicht anders zu helfen, als einfach die Aussagen des Koran zu bestreiten, dass sich das erste Menschenpaar jemals im Paradies aufgehalten hatte.
Ein weiteres Beispiel ist die Sündhaftigkeit aller Menschen einschließlich der Propheten (mit Ausnahme von Jesus!) und die daraus resultierende Erlösungsbedürftigkeit. Obwohl der Koran durchaus um die Sündhaftigkeit auch der Propheten weiß und ihre Buße und Bitte um Vergebung schildert (vergl. Suren 3,147; 4,106; 7,151; 23,118; 26,82; 28,16; 38,24-25. 34-35; 40,55; 47,19; 71,28; 110,3), behauptet die zeitgenössische islamische Theologie die Sündlosigkeit aller Propheten.

Andere Beispiele sind die Einzigartigkeit Jesuund seine Eigenschaften, die Vertrauenswürdigkeit und Unverfälschtheit der Bibel bis heute, die Identität des kommenden Weltrichters usw..

Dann kann man zweitens biblische Konzepte aufgreifen, die als Begriff im Koran auftauchen, aber dort inhaltlich kaum gefüllt werden. Man kann diese „leeren Gefäße“ im Koran zeigen und dann mit biblischem Inhalt füllen. Dies gilt besonders da, wo unser Gesprächspartner die Leere dieser Gefäße im Koran schon zu begreifen beginnt und neugierig ist, was dahintersteckt. Beispiele hierfür wären Konzepte wie die Bundesschlüsse Gottes mit den Menschen, das Opfer und seine Bedeutung, Freundschaft mit Gott (Abraham ein Freund Gottes), der Name Jesus, die Titel von Jesus wie Wort Gottes und Messias, der Name des Buches Indjil (Evangelium). Weiter in dieser Weise fruchtbar machen lassen sich das Konzept von Fürsprache bei Gott, Heiligkeit Gottes, das Sehen Gottes im Paradies und die Wiederkunft Jesu usw.

Drittens gibt es die Möglichkeit, Muslimen die Beschäftigung mit der Bibel interessant zu machen, indem man ihnen die große Lückenhaftigkeit der koranischen Prophetengeschichten zeigt. Wichtige Details zum Verständnis der Geschichten verschweigt der Koran – in der Bibel findet man sie alle. Wer z. B. ist Zul-Karneyn (der Zweigehörnte) in Sure 18? Muslime deuten ihn mangels Bibelkenntnis als Alexander den Großen. Tatsächlich wäre Kyros der Große die passendere Zuordnung, weil auch die Bibel ihn als Gesalbten Gottes (Jesaja 45,1) bezeichnet und das medo-persische Reich, welches Kyros begründete, in Daniel 8,3 als zweigehörnter Widder beschrieben wird. Interessanterweise wird Kyros auf einem antiken Relief mit zwei Hörnern dargestellt.

Wo Muslime die Freundschaft mit Christen schätzen und dabei alle Unterschiede zwischen Islam und Christentum zu relativieren suchen, kann viertens auch einmal eine mehr konfrontative Benutzung des Koran hilfreich sein. Z. B. kann man die Frage aufwerfen, ob Jesus am Kreuz tatsächlich für die Sünden der Menschen starb oder ob er, wie der Koran in Sure 4:157 behauptet, nie gekreuzigt und getötet wurde. Hier haben Christen eine Fülle von biblischen und auserbiblischen Belegen vorzubringen. Der Koran hingegen steht mit seiner unbewiesenen Behauptung in einem einzigen (!) Vers nackt und schutzlos da. Wenn Muslimen dieser Sachverhalt in einer nicht arroganten Weise dargelegt wird, wenn sie die prophetische Ankündigung des Kreuzestodes in Psalm 22 oder Jesaja 53 mit uns lesen, kommen sie immer wieder ins Fragen und Nachdenken.

Grenzen der Koranbenutzung

Grundsätzlich gilt: Koranbenutzung ist absolut keine Bedingung für fruchtbare Gespräche mit Muslimen, sondern allenfalls ein Hilfsmittel. Zahllose Muslime wurden von Menschen zum Herrn Jesus geführt, die den Koran nicht einmal durchgelesen hatten. Wenn Muslime selbst den Koran nie (in der Muttersprache) gelesen haben, keine regelmäßigen Moscheebesucher sind, aber offen, sich mit der Bibel zu beschäftigen, sollte auf eine Benutzung des Koran verzichtet werden.
Hier mag es Ausnahmen geben, wie das folgende Beispiel zeigt: Ein Kurde aus der Türkei, der den Koran selbst nie gelesen hatte, kam zu einem christlichen Bücherstand. Als er die kurdische Literatur sah, freute er sich riesig und behandelte die Mitarbeiter wie alte Freunde. Einer der Mitarbeiter machte ihn mit gespielter Strenge darauf aufmerksam, dass er als Muslim nicht so freundschaftlich mit Christen umgehen dürfe, weil das in Sure 5:51 doch verboten wäre. Der Kurde reagierte empört, ließ sich den Koranvers zeigen, nahm den Koran und begann nach einem islamischen Lehrer zu suchen, der ihm den Vers erklären konnte. Die Erklärung, die er dann erhielt, empörte ihn derart, dass er von da an mit dem Koran nichts mehr zu tun haben wollte, statt dessen aber anfing, einen türkischsprachigen Hausbibelkreis zu besuchen.
Die Grenze angemessener Benutzung des Koran ist z. B. da erreicht, wo Muslime die Worte ihres eigenen Buches nicht aus dem Mund von Christen hören wollen. Wenn Muslime grundsätzlich ausschließen, dass ein Nichtmuslim den Koran richtig verstehen und interpretieren kann, ist ein Verweisen auf Korantexte wenig sinnvoll. Erfahrung bei engagierten Streitgesprächen mit Muslimen war, dass ein Hervorholen des Koran dann wirkte, wie Öl ins Feuer zu gießen. Deshalb ist ein Verweisen auf Korantexte nur in einer halbwegs offenen und freundlichen Gesprächsatmosphäre anzuraten.

Weiter ist die Grenze dort erreicht, wo die Benutzung des Koran auf eine Täuschung der Muslime hinauslaufen würde. Beispielsweise wenn Christen mit dem Koran in einer Weise umgehen, die Muslime glauben lässt, auch sie würden den Koran als Wort Gottes betrachten und achten. Wenn Christen statt mit der Bibel mit dem Koran in der Hand ins Gespräch einsteigen; oder wenn auf christlichen Druckerzeugnissen Koranverse in so herausgehobener Weise dargestellt werden, dass sie als Blickfang und eigentliche Attraktion wirken. Damit wird dann eine Achtung vor dem Koran suggeriert, die Christen so niemals aufbringen.

Orientierung 2010-05; 20.11.2010

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