Wege zu türkischen und kurdischen Frauen sucht eine unserer Mitarbeiterinnen. Sie treibt der Wunsch an, ihnen mit der Liebe von Christus zu dienen. Denn in Gottes Augen ist jede Einzelne wie eine wertvolle Perle. Sie erzählt, wie sie diese Frauen in ihrer Beziehung zum Ehemann, mit ihren Kindern und als Berufstätige erlebte.

Echte Freundschaft und Wertschätzung habe ich bei türkischen und kurdischen Frauen oft erlebt und erfahren. In der orientalischen Gesellschaft besitzt die Familie einen hohen Stellenwert. Nicht so sehr der Einzelne zählt, sondern die Gruppe, die Familie. Eine Frau ist in der Regel einem Mann zugeordnet: zuerst ihrem Vater, ihrem Bruder und später ihrem Ehemann. In Deutschland sind türkische Frauen mit einer ganz anderen Kultur konfrontiert. Frauen, die ich kenne, versuchen in beiden Welten zu leben: in der Herkunftsfamilie mit muslimischer Prägung und in der sie umgebenden westlichen Kultur. Es gibt aber auch Frauen, die sich einseitig für den einen oder anderen Weg entschieden haben. Obwohl viel im Umbruch ist, prägt auch weiterhin die Tradition das Leben der Familien. Sie ist nicht leicht abzuschütteln.

Erwartet ein Ehepaar das erste Kind, wünscht sich vor allem der Mann einen Sohn, die Frau oft auch – es bedeutet für sie Sicherheit. Ich erlebe auch, dass Mütter ganz spezielle Beziehungen zu ihren Söhnen aufbauen, da diese im Alter die Mutter versorgen werden.

Auffällig ist, dass kleine Kinder nur wenig eingeschränkt werden. Sie dürfen sich fast alles erlauben. Wenn Mädchen älter werden, müssen sie sehr viel im Haushalt mithelfen. Sie werden früh eingebunden, passen auf jüngere Geschwister auf und entlasten die Mutter. Man kann sagen, dass zwölf- bis sechzehn-jährige türkische Mädchen bereits einen Haushalt eigenständig führen können. Sie werden – spätestens wenn sie in die Pubertät kommen – in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt, dürfen nicht mehr alleine unterwegs sein, aus Sorge um die Familienehre. Wenn Jungen und Mädchen ins heiratsfähige Alter kommen, werden auch hier in Deutschland Ehen häufig arrangiert. Das ist aber nicht zu verwechseln mit der Zwangsehe. Bei arrangierten Ehen geben sich die Eltern oft große Mühe, die passenden Partner zusammen zu bringen und räumen der Tochter das Recht ein, auch Nein zu sagen.

Wenn die junge Frau dann verheiratet ist, soll sie auch Kinder bekommen, möglichst einen Sohn. Das festigt ihre Stellung, ihr Ansehen in der Familie. Je älter die Frau wird, umso mehr gewinnt sie an Achtung, auch in der Gesellschaft. Bei der älteren Frau holt man sich Rat, sie gilt als Hüterin der Tradition. Im Bereich von Familie und Erziehung haben die Begriffe Ehre bzw. Schande einen hohen Wert. Kinder werden erzogen, damit sie ihren Eltern keine Schande bereiten, die Familienehre soll nicht verletzt werden. Frauen und Töchter haben sich in der Öffentlichkeit so zu verhalten, dass niemand daran Anstoß nimmt. Den Männern fällt es zu, notfalls bei Beleidigung diese Ehre zu verteidigen.

Der Wandel zeigt sich unter anderem darin, dass türkische Mädchen studieren, einen Beruf erlernen – das ist erfreulich. Statistisch betrachtet sind im Alter zwischen 18 und 29 Jahren zurzeit nur die Hälfte der türkischen Frauen verheiratet. Dies besagt, dass das Heiratsalter hier in Deutschland enorm gestiegen ist. Oft müssen türkische Frauen berufstätig sein, weil sonst das Geld einfach nicht ausreicht. Doch das Familienleben soll nicht darunter leiden. Mir ist wichtig zu lernen, jede Frau als Einzelperson zu sehen. Den Frauen tut es oft weh, wenn sie merken: überall wo die türkische muslimische Frau in die Schlagzeilen kommt, wird sie in Verbindung gebracht mit Gewalt und Unterdrückung. Es gibt diese Dinge, dagegen ist aufzustehen, doch der überwiegende Teil der Frauen ist nicht betroffen.

Ich habe eine Reihe von Frauen erlebt, die mit ihrer Rolle als Frau und Mutter sehr zufrieden und glücklich sind. Wir sollten uns hüten, die muslimische Frau allein mit unserer „Brille“ zu beurteilen – lieber versuchen, sich in die Situation der Frauen hinein zu versetzen. Jede einzelne Frau ist vor Gott wie eine wertvolle Perle. Ich möchte dazu Mut machen, dies zu erkennen, so Frauen zu entdecken und kennen zu lernen. Sie haben im Grunde die gleichen Probleme wie wir. Als Frauen und als Familien haben wir große Möglichkeiten, ihnen zu begegnen und ihnen auch die Liebe von Jesus weiterzugeben. Traurig machte mich das Lesen einer Veröffentlichung, dass unter den türkischen Migranten-Frauen hier in Deutschland die Selbstmordrate doppelt so hoch ist wie unter den Einheimischen. Dies ist eine Herausforderung für uns, mit offenen Augen in unserem Alltag zu stehen.

Orientierung 2013-03; 26.06.2013
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