Auf dem Weg mit einem Obdachlosen-Seelsorger.

Menschen, die obdachlos geworden sind, haben meist eine längere Zeit der völligen Entwürdigung und einer damit einhergehenden Abwärtsspirale erlebt. Es gibt so viele Geschichten … Sie alle haben eins gemeinsam: Zuerst wurden sie innerlich wohnungslos.

Der Teufelskreis der inneren Wohnungslosigkeit

Sie haben zum Beispiel durch Trennung oder Tod ihren Lebenspartner verloren oder durch Streit ihre Familie. Erst nach der inneren Wohnungslosigkeit kommt es auch zur äußerlichen. Oft bedeutet dies: Wer alleine ist, ertränkt seinen Kummer in Alkohol, Glücksspiel oder Drogen. Wer süchtig ist, verliert seinen Arbeitsplatz. Wer seinen Job verloren hat, verliert noch mehr sozialen Anschluss und jeglichen Willen nach Aktivität und am Ende auch seine Wohnung. Viele Wohnungslose fühlen sich entwürdigt und schämen sich sehr. Diese Mischung aus Sucht, Verletzung, Scham, Angst und Würdelosigkeit führt dazu, dass sie nicht in der Lage sind, sich mit dem Jobcenter oder Sozialamt auseinanderzusetzen.

 

Obdachlos = Würdelos?

“Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.”

1. Artikel Grundgesetz.

 

Meine Aufgabe ist es, diese Menschen zum einen auf der Straße anzusprechen und zum anderen die Gäste unserer Unterkunft zu einem Vieraugengespräch in mein Büro einzuladen. Dort gebe ich ihnen die Möglichkeit, auf Augenhöhe mit mir zu reden. Zuhören können ist ein wichtiger Teil, vielleicht der wichtigste in meiner Arbeit: Da sein. Das wichtigste ist mir, den Menschen zu sagen: “Du bist ganz, ganz wichtig. Weißt du eigentlich, dass da jemand ist, der dich genauso liebt, wie du bist? Weißt du, dass du ewig lebst?”

Der Weg in die Obdachlosigkeit

Da sind Frauen, die völlig mittellos von ihrem Ex-Partner vor die Tür gesetzt werden. Da sind Männer, die durch Krankheit völlig verbittert sind und niemanden mehr an sich heranlassen und so jeden vertrieben haben. Da sind viele Osteuropäer, die hier in Deutschland ihr Glück versuchten, aber nie Arbeit fanden. Die Schande, gescheitert nach Hause zu kommen ist zu hoch, lieber ertränken sie ihren Kummer im Alkohol. Eine Flasche Wodka kostet nur 6 €.

                                                                                           Die Ärmsten der Armen: Obdachlos als Asylbewerber

Besonders traurig machen mich die Menschen, deren Asylantrag abgelehnt wurde, die aber nicht zurück können, denn ihre Heimat existiert nicht mehr: Die Dörfer wurden von Rebellen abgebrannt, die Terroristen regieren noch immer die Gegenden. Also leben sie lieber hier auf der Straße. Sie können noch nicht einmal zu den Übernachtungsstellen der Stadt, denn sollte dort die Polizei erscheinen und ihre Papiere kontrollieren, werden sie ausgewiesen. Sie sind am untersten Ende der Gesellschaft, die Ärmsten der Armen.

Der große Traum

Meine Traumvorstellung ist, dass alle Christen der Welt verstehen, dass sie Seelsorger sein können. Seelsorge ist manchmal nur ein freundlicher Blick, der sagt “Ich sehe DICH!”. Wäre das nicht wunderbar?

Menschen, die jeglichen Lebenswillen verloren haben, deren ganze gebückte Körpersprache sagt: “Ich bin so klein, ich wurde so oft gedemütigt”, dem kann ein einziges freundliches Wort, ein Lächeln, eine Frage wie “Wie geht es Ihnen? Kann ich Ihnen etwas Gutes tun?” schon sehr viel bringen. Auch Jesus fragte die Menschen: “Was willst du, was ich dir tue?” (Luk 18,41)

Jesus sagte auch: “An der Liebe sollt ihr sie erkennen”, aber wo ist diese Liebe auf den Straßen? Jesus ging zu den Zöllnern und Aussätzigen, er heilte die Kranken und Lahmen. Warum gehen wir nicht zu ihnen? Warum sehen wir weg, wenn wir Leid, Krankheit und Armut in der Fußgängerzone sehen? Jesus sieht sie – und wir schauen weg? Echte Zuwendung ist wichtiger als Geld!

Gerne vergessen wir, dass Obdachlose Menschen sind. Sie haben dieselbe Würde und denselben Wert wie unsereiner, der mit dem Auto zur Arbeit fährt und gute Kleidung trägt. Es erstaunt mich immer wieder, wie konkret Wohnungslose antworten, wenn ich sie frage: “Welche Ziele hast du noch im Leben?” Und es ist wunderbar, wenn ich immer wieder erleben darf, wie Menschen diese Ziele wieder erreichen können.

Gott ist in uns

Die Liebe Gottes wird durch das Handeln von Menschen sichtbar. Gott ist die Liebe. Und wenn ich Menschen mit Liebe begegne, dann handelt Gott in mir. Und dann ist das Gespräch zwischen Menschen nicht nur einfach ein Gespräch, sondern ein Gespräch mit Gott. Ich frage mich bei jeder Unterhaltung, die ich in meinem Büro führe: “Ist seine oder ihre Begegnung mit mir auch eine Begegnung mit Gott?” Das ist mein Maßstab in meinen Gesprächen mit den Menschen auf der Straße. Und diese Aufgabe in meinem Leben erfüllt mich mit größerer Freude, als es jeder Urlaub oder jedes Geld der Welt je hätte geben können.

Wohnungslos: Wohnungslose sind Menschen ohne festen Wohnsitz. Oft ziehen sie von Bekannten zu Bekannten und haben keine Meldeadresse. Dies betrifft in Deutschland weit über 400.000 Menschen. Die Dunkelziffer ist hoch.

Obdachlos: Obdachlos sind Menschen, die keine Übernachtungsstelle mehr haben und auf der Straße schlafen. Über 50.000 Menschen in Deutschland haben keine Bleibe für die Nacht und schlafen im Freien. Die Dunkelziffer ist hoch.