Der Koran gebraucht für die Umschreibung der Eigenschaften Allahs Vergleiche mit menschlichen Merkmalen. Das war und ist für die muslimischen Theologen ein erhebliches Problem. Wie kann man so „menschlich“ von Allah reden, wo Allah doch von allem Menschlichen geschieden ist? Müssen diese Ausdrücke, die Allah dem Menschen „verähnlichen“, „wörtlich“ oder „übertragen“ (metaphorisch, allegorisch) verstanden werden?

Beispiele aus dem Koran

Nach dem Koran hat Allah ein „Antlitz“. So heißt es in Sure 55,26f. (Zitate nach A. Th. Khoury, Der Koran Arabisch-Deutsch, Gütersloh 2004): „Alle, die auf ihr [der Erde] sind, werden vergehen; bleiben wird nur das Antlitz deines Herrn.“ Die Übersetzung von R. Paret (8.Aufl. 2001) beseitigt den Anstoß durch folgende Wiedergabe: „Dein Herr, der Erhabene und Ehrwürdige, bleibt bestehen.“ – Öfter (2,272; 6,52; 13,22; 18,28; 30,38f; 92,20) heißt es im Koran, dass der Mensch „nach dem Antlitz Gottes suchen“ (Khoury) soll, indem er betet und von seinem Besitz abgibt. – Berühmt ist Sure 2,115: „Gottes ist der Osten und der Westen. Wohin ihr euch auch wenden möget, dort ist das Antlitz Gottes.“ (Khoury). Ähnlich ist die Rede von Allahs „Augen“. Nach Sure 52,48 tröstet Allah Mohammed mit den Worten: „Sei geduldig, bis dein Herr sein Urteil fällt. Du stehst vor unseren Augen.“ (Khoury). – In Sure 54,14 sagt Allah, dass die Arche Noahs „vor unseren Augen dahinfuhr“ (Khoury). Paret interpretiert jeweils durch die Übersetzung: „unter unserer Obhut“. Allah hat „Hände“. Nach Sure 5,64 sagt Mohammed von Allah: „Seine Hände sind ausgebreitet, und Er spendet, wie Er will.“ (Khoury, ähnlich Paret). Es geht hier um das reichliche Schenken Allahs, unter anderem in der „Herabsendung“ des Koran. Allah „sitzt auf einem Thron“. Berühmt ist der „Thronvers“ (2,255): „Nicht überkommt Ihn Schlummer und nicht Schlaf. Ihm gehört, was in den Himmeln und was auf der Erde ist… Sein Thron umfasst die Himmel und die Erde, und es fällt ihm nicht schwer, sie zu bewahren.“ (Khoury, ähnlich Paret). „Thron“ ist also Ausdruck von Allahs Weltherrschaft. Er ist der „Herr des ehrwürdigen Thrones“ (23,116 nach Khoury, vgl. auch 20,5 und 25,59). Er ist der „wahre König“ (20,114; 23,116) – einer der „schönen Namen“ Allahs (vgl. 7,180; 20,8). – Zu diesen Namen Allahs gehört „der Sichtbare“ (Sure 57,3 nach Khoury, Paret übersetzt „erkennbar“). Das ist merkwürdig angesichts der Verborgenheit Allahs, die ebenfalls in Sure 57,3 ausgesprochen wird: „Er ist der Sichtbare und der Verborgene.“ (Khoury).

Auf jeden Fall legen diese Ausdrücke die Vermutung nahe, dass Mohammed Allah personal verstand. Wahrscheinlich war er dabei von seinen jüdischen Gewährsleuten beeinflusst worden. Das Alte Testament kann ähnlich „vermenschlichend“ von Gott reden. „Des HERRN Thron ist im Himmel. Seine Augen sehen herab, seine Blicke prüfen die Menschenkinder.“ (Ps 11,4) „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes und die Feste verkündigt seiner Hände Werk.“ (Ps 19,2) „HERR, lass leuchten über uns das Licht deines Antlitzes!“ (Ps 4,7)

Unterschiedliche Deutungen in der muslimischen Theologiegeschichte

Die muslimischen Theologen fanden unterschiedliche Antworten auf das Problem. Es hat immer eine theologische Richtung gegeben, die den Koran als vernünftig beweisen wollte. Sie vergeistigte die Anthropomorphismen. Unter dem „Thron Allahs“ verstand sie sein Weltregiment, unter seinen „Händen“ seine schöpferische und beschützende Macht, unter seinen „Augen“ seine Allgegenwart und unter seinem „Antlitz“ Allah selbst als im Gebet zu suchenden. Bekannt wurde die frühe theologische Schule der Mu’taziliten (8./9. Jahrhundert n. Chr.), welche die Logik des Aristoteles heranzog, um den Koran systematisch zu durchdenken und gegenüber seinen Kritikern als logisch zu beweisen. Um an einem rein geistigen Gottesbegriff festzuhalten, deuteten sie die anthropomorphen Aussagen des Koran „übertragen“. Dagegen wehrten sich die konservativen Theologen. Ihr erster großer Vertreter, Ibn Hanbal (780-855 n. Chr.), forderte, alle Anthropomorphismen des Koran stehen zu lassen und nicht zu interpretieren. Der Thron Allahs und sein Thronsessel seien von Allah erschaffen und könnten deshalb nicht vergeistigt werden. Alle vermenschlichenden Ausdrücke seien wörtlich für wahr zu halten, allerdings „ohne Wie“ (amodal). Der Thron Allahs sei nicht mit einem menschlichen Thron zu vergleichen, aber auch nicht erklärbar. Deshalb lehnte Ibn Hanbal es ab, aus dem Handeln und den Eigenschaften des Menschen Schlüsse auf das Handeln Allahs zu ziehen. Solche Schlüsse waren für ihn abzulehnende Anthropomorphismen, da durch sie Allah und Mensch in eine Beziehung zueinander gebracht würden. Um eine „Vermenschlichung“ Allahs zu vermeiden, lehnte Ibn Hanbal jede Diskussion über die Eigenschaften Allahs ab. Die konservative Theologie folgte Ibn Hanbal weitgehend, obwohl es immer auch Kompromisse mit der rationalistischen Richtung gab. Der große Gewährsmann des Hauptstroms der konservativen Theologie war Al-Asch’ari (873-935 n.Chr.). Für ihn war der Text des Koran ewig und nicht erschaffen. Die allegorische Auslegung der Rationalisten lehnte er ab und lehrte ein wörtliches Verständnis des Koran mit der Begründung, dass Allah den Koran „in klarer arabischer Sprache“ (vgl. Sure 16,103) offenbart habe. Im Blick auf die anthropomorphen Ausdrücke lehrte er wie Ibn Hanbal, dass sie wörtlich, aber ohne konkrete Vorstellung zu verstehen seien. Ganz anders dachten die großen muslimischen Philosophen. Sie gingen in der Vergeistigung der Koranausdrücke noch weiter als die rationalistisch denkenden Theologen. Sie waren der Philosophie des Aristoteles und des Neuplatonismus verhaftet. Während für die rationalistischen Theologen Allah eine reale Größe außerhalb des geschaffenen Seins blieb, war er für die Philosophen die „höchste Idee“ oder der „erste Beweger“ innerhalb des einen Seins.

Eine Beurteilung aus christlicher Sicht

Der Umgang mit den Anthropomorphismen macht einen wesentlichen Unterschied zwischen biblischem Glauben und Islam deutlich. Die Bibel bezeugt, dass Gott mit uns Menschen in Reden und Handeln „Gemeinschaft“ haben möchte und sich uns Menschen auf verschiedene Weise „zuwendet“. Um sich uns Menschen verständlich zu machen, redet und handelt Gott sehr „menschlich“. Seine Tiefe hat diese Zuwendung Gottes zu uns in der Menschwerdung (Inkarnation) seines Wortes in Jesus Christus erreicht. Um Jesu willen können wir Christen menschlich von Gott reden und zugleich festhalten, dass Gott der unverfügbare Gott bleibt. Das Bemühen der muslimischen Denker ist dagegen darauf gerichtet, Allah von allem Menschlichen fernzuhalten. Die muslimische Theologie lehnt die Menschwerdung des rettenden Wortes Gottes in Jesus Christus ab. Daran wird deutlich, dass sie die Erlösung des Menschen nicht für nötig hält. Insofern berührt die Frage nach der „Vermenschlichung“ Gottes das Zentrum des biblischen Glaubens.

 

Orientierung 2008-05; 15.10.2008

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