„Jesus Christus … geboren von der Jungfrau Maria“ – diese Worte des Apostolischen Glaubensbekenntnisses unterstreicht der Koran in seinen Aussagen über die Geburt Jesu ganz deutlich. In Sure 3,45-49 sowie in Sure 19,16-21 lesen wir, wie der Koran die Ankündigung der Geburt Jesu darstellt; was er über die Geburt selber zu sagen weiß, finden wir in Sure 19,22-35. – In unserer Darstellung folgen wir Sure 19,16-35.

Sohn der Jungfrau Maria

Maria hat sich von ihrer Familie zurückgezogen; da sendet Gott einen Engel (wörtlich: „unseren Geist“; in Sure 3,45 sind es mehrere Engel) zu ihr in Gestalt eines Mannes, der sich ihr als Gesandter Gottes vorstellt und ihr die Geburt eines „lauteren Jungen“ ankündigt. Ähnlich wie im Neuen Testament fragt Maria: „Wie sollte ich einen Jungen bekommen, wo mich kein Mann berührt hat?“ Sie erhält die Antwort: „Dein Herr sagt: Es fällt mir leicht“ – Wenn Gott etwas beschlossen hat, kann er es auch ausführen. Jesus wird im Koran als „Sohn der Maria“ bezeichnet, um zu betonen, dass er keinen menschlichen Vater hat, sondern einem Wunder Gottes sein Leben verdankt.

Geschöpf Gottes

In Sure 3,47 wird das noch deutlicher ausgedrückt: „Das ist Gottes Art. Er schafft, was er will. Wenn er eine Sache beschlossen hat, sagt er zu ihr nur: sei!, dann ist sie.“ – Durch das Wort des allmächtigen Schöpfers wird in Maria ein menschliches Wesen geschaffen. Sure 3,59 betont, dass es sich mit Jesus ähnlich verhält wie mit Adam; auch zu diesem sagte Gott nur: „Sei!“ und da war er. Die Jungfrauengeburt ist nach dem Koran lediglich eine Demonstration der Macht Gottes. Sie ist nicht ein zeichenhafter Hinweis auf einen besonderen, für menschliche Sinne nicht wahrnehmbaren Vorgang von heilsgeschichtlicher Bedeutung: dass das ewige Wort Gottes „Fleisch“ wird (Joh 1,14); dass der Sohn Gottes, der von Ewigkeit her in göttlicher Gestalt war, menschliche Gestalt annimmt (Phil 2,6+7).

„An einem fernen Ort“

Vor der Geburt zieht Maria sich „an einen fernen Ort“ (Sure 19,16) zurück. Näheres wird nicht darüber gesagt, wo Jesus zur Welt kam. Für den Koran spielt Bethlehem als „Stadt Davids“ (Lk 2,11) und als Ort der göttlichen Verheißung (Mt 2,5f und Micha 5,1) keine Rolle.

Hilfe für Maria

Als Maria Jesus zur Welt bringt, ist sie mit ihren Geburtsschmerzen und ihrer Verzweiflung allein (Sure 19,23). Doch eine Stimme ruft ihr zu, dass ihr Herr ein Rinnsal mit Wasser für sie vorbereitet habe und dass sie sich mit frischem reifen Datteln der Palme stärken solle, unter die sie sich geflüchtet hatte. Joseph, der Verlobte Marias, wird im Koran überhaupt nicht erwähnt. Er ist nicht bei ihr zur Zeit der Geburt. Er wird auch nicht durch einen Engel über das Geheimnis der Geburt Jesu unterrichtet und kann daher Maria auch nicht in Schutz nehmen vor der Verdächtigung ihrer Umgebung. Nach dem Koran muss Maria sich allein dem Verdacht seitens ihrer Verwandtschaft aussetzen, sie sei durch Hurerei schwanger geworden. Als sie mit dem Säugling auf dem Arm zu ihrer Familie kommt, wird sie entsetzt angesprochen und beschuldigt (Sure 19,27+28): „Maria! Da hast du etwas Unerhörtes begangen. Schwester Aarons! Dein Vater war doch kein schlechter Kerl (w. Mann) und deine Mutter keine Hure.“ – Auch in dieser Schwierigkeit erfährt sie göttliche Hilfe:

Der sprechende Säugling

Maria weist hin auf das Kind, und Jesus beginnt (wie in Sure 3,46 angekündigt) zu ihnen zu reden. – Durch dieses Wunder wird die Reinheit Marias bestätigt, ihre Ehre verteidigt und das Wunder der Jungfrauen-Geburt allen offenbar gemacht.

Was der neugeborene Jesusknabe sagt, liegt ganz auf der Linie dessen, was der Koran insgesamt über Jesus lehrt:

a) er ist Knecht Gottes, nicht etwa Sohn Gottes;

b) er hat von Gott ein Buch, eine Offenbarungsschrift empfangen, ist also einer von den bedeutenden Propheten;

c) er hat rituelle Gebote (Ritualgebet und Almosensteuer) einzuhalten und zu verkünden.

Abwehr der Gottessohnschaft

Der Gedanke der Gottessohnschaft Jesu wird in diesem Zusammenhang (Sure 19,35) noch einmal ganz deutlich zurückgewiesen: „Es steht Gott nicht an, sich irgendein Kind zuzulegen.“ Unausgesprochen steht hinter dieser Formulierung das Missverständnis, wer von Gottes Vaterschaft rede, meine eine geschlechtliche Zeugung.

Der „größere“ Jesus?

Im Vergleich mit der koranischen Darstellung fällt auf, wie wenig Spektakuläres im Neuen Testament über den eigentlichen Vorgang der Geburt Jesu berichtet wird (Lk 2,6f; Mt 1,25). Andererseits erfahren Außenstehende (in Lk 2, 8-20 die Hirten, in Mt 2,1-12 die Sterndeuter aus dem Osten) etwas über die Bedeutung dieses Kindes und kommen, um es anzusehen (Lk 2,15) und ihm zu huldigen (Mt 2,2+11). Während der Koran vom wunderbaren Reden Jesu in der Wiege erzählt, ist das Kind Jesus nach dem Zeugnis des Neuen Testaments äußerlich durch nichts von anderen Kindern zu unterscheiden. Was das Neue Testament allerdings über die Herkunft und Bedeutung Jesu sagt, davon weiß der Koran nichts oder er bestreitet es: Trotz aller Wunder im Zusammenhang mit seiner Geburt ist Jesus im Koran weder „das Ebenbild des unsichtbaren Gottes“ (Kol 1,15) noch der „Retter“ (Lk 2,11) für Sünder.

 

Orientierung 1999-06; 15.12.1999

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