Bei einem kritischen Lesen des Koran wird man feststellen, dass dieser stellenweise widersprüchlich ist. Ein Beispiel sind die Aussagen über die Christen. Einerseits gibt es Koranverse, die sich positiv und lobend über Christen äußern. Muslime re­spektieren Christen wegen ihrer Gottesfurcht. Andererseits gibt es aber auch solche Textstellen, die sich negativ über Christen oder Menschen anderer Glaubensüber­zeugung äußern. Allgemein kann gesagt werden, dass Muslime Christen eher ak­zeptieren und tolerieren als Polytheisten (Anhänger von vielen Göttern). Denn sowohl Christen als auch Juden wer­den aufgrund „ihrer heiligen Bücher“ als „Völker des Buches“ bezeichnet. Warum aber gibt es Widersprüche im Koran und wie lassen sich diese erklären? Sicherlich gibt es dafür verschiedene Erklärungen. Ich möchte mich auf zwei, meiner Meinung nach wesentliche beschränken: 1) Muslime glauben, dass es sich bei den 114 Koransuren um die Wiedergabe von Offenbarungen handelt, die Mohammed im Laufe von 23 Jahren entweder in Mekka oder Medina erhielt. Während der mekkanischen Periode lud Mohammed die Menschen durch Predigten zum Islam ein. In der medinensischen Periode scheute er auch nicht davor zurück, seine Über­zeugungen mit dem Schwert zu verbreiten. 2) Zum anderen gibt es bei der Interpreta­tion des Koran das Prinzip des Nasich (Wortbedeutung „aufhebend“) bzw. Mansuch (Wortbedeutung „aufgehoben“). Dieses Prinzip kommt dann zur Anwendung, wenn es bei einem Sachverhalt zwei Koranverse mit unterschiedlichen Aussagen gibt. Die Aufgabe von islamischen Gelehrten ist es, zu entscheiden, welcher Vers mansuch und damit für heute nicht mehr relevant ist. In der Regel lösen die neuen Offenbarungen die älteren ab. Im Folgenden werden einige Koranaussagen, die sich mit der Beziehung der Mus­lime zu Christen beschäftigen, kurz genannt und untersucht. Zunächst eine Auswahl an Versen, die sich eher positiv oder liberal äußern:

Sure 2, 62 (Die Kuh, geoffenbart zu Medina): Christen und Juden haben für ihren Glauben und ihre Taten ihren Lohn bei Gott.

Sure 2, 109: Menschen vom „Volk der Schrift“ werden versuchen, Muslime vom rechten Glauben abzubringen. Darum sollen Muslime sie zwar meiden, ihnen aber trotzdem vergeben.

Sure 2,256: Es gibt keinen Zwang in der Religion.

Sure 5, 82 (Der Tisch, Medina): Muslime sollen Christen wegen ihres Glaubens und ihrer Demut schätzen.

Sure 5, 105: Muslime sollen sich um Andersgläubige nicht kümmern.

Raum zu einer eher aggressiven Auslegung geben folgende Koranverse:

Sure 4,47 (Die Weiber, Medina): Zwang und Gewaltausübung in der Religion sind eindeutig erlaubt. Es wird sogar dazu aufgerufen.

Sure 5,51; 4,89 Muslime sollen soziale Interaktionen mit Ungläubigen vermeiden und keine Freundschaft mit ihnen pflegen.

Sure 8, 39 (Die Beute, Medina): Kampf gegen all jene, die den Islam ablehnen, bis sie bereit sind, Allah anzubeten.

Sure 8,55-60: Ungläubige sind keine menschlichen Wesen. Gewalt ihnen gegen­über ist ein legitimes Mittel.

Sure 9,5 (Die Reue, Medina): Der sog. „Schwertvers“, der sich wohl in erster Linie gegen Polytheisten richtete. Er spricht ganz klar davon, dass ihnen gegenüber Gewalt ausgeübt werden darf.

Sure 9,123: Aufruf zum Kampf gegen die Ungläubigen.

Diese kurze Darstellung der Verse lässt den Schluss zu, dass die Beziehung der Muslime zu Nicht-Muslimen einen gewissen Überlegenheitsanspruch in sich birgt. Historisch betrachtet ist es die Beziehung von Eroberern zu Eroberten. Diese Aus­sage lässt sich am besten durch Sure 9,29 belegen: „Kämpfet wider jene von denen, welchen die Schrift gegeben ward, die nicht glauben an Allah und an den Jüngsten Tag und nicht verwehren, was Allah und Sein Gesandter verwehrt haben, und nicht bekennen das Bekenntnis der Wahrheit, bis sie den Tribut aus der Hand gedemütigt entrichten.“ Die in diesem Vers erwähnten Tributzahlungen motivierten Eroberungen be­reits christlicher Gebiete im Laufe der islamischen Invasion des 7. und 8. Jh. Im 7. und 8. Jh. wurden bereits christianisierte orientalische Provinzen von islami­schen Heeren überrollt. Die christliche Bevölkerung geriet unter islamische Fremd­herrschaft. In deren Folge kam es zu Übertritten zum Islam oder zu einer indirekten „Zwangsislamisierung“, da die Menschen dem wachsenden gesellschaftlichen Druck nicht mehr standhalten konnten. Es kam zu freiwilligen oder zu erzwungenen Auswanderungen. Damit wurde die christliche Bevölke­rung stark dezimiert und zu einer religiös-kulturellen Minderheit. Christen sowie Anhänger anderer Religionen (Juden, Zoroastrier und andere) wurden gezwungen, sog. „Kapitulationsverträge“ zu unterzeichnen. Die daraus resultierenden „Schutzverträge“ hießen „dhimma“. Die Unterzeichner wurden zu „dhimmi“ d. h. zu „Schutzbefohlenen“. Dieser sogenannte Schutz musste durch die in Sure 9,29 erwähnten Tributzahlungen (dschizya) erkauft werden. Die „Schutzbefohlenen“ waren alle Nichtmuslime, die einer islamischen Herrschaft und den Inhalten der Schutzverträge zustimmten. Das jeweilige Ausmaß ihrer Freiheit bestimmte ihre Akzeptanz und Kooperation mit der islamischen Vorherrschaft. Dies bedeutet im praktischen Lebensvollzug, dass sie im Wesentlichen als tolerierte Minderheit lebten, ohne das Recht zu haben, den eigenen Glauben zu verkünden oder zu missionieren. Oftmals lebten Christen als Minderheit am Rande der Gesellschaft. Sie waren gezwungen, sich ei­ner zeitweise lächerlichen Kleiderordnung zu unterwerfen. Es gab keine Religions-, Meinungs- oder Gewissensfreiheit. Bis in die heutige Zeit beeinflussen solche und andere Relikte aus der Vergangenheit das Zusammenleben von Muslimen und Christen in islamischen Staaten. Leider kommt es nach wie vor zu mehr oder weniger starken Diskriminierungen von Chris­ten in islamischen Staaten. Besonders schwierig ist die Lage von Konvertiten aus ei­nem islamischen Hintergrund. Es ist aber auch wichtig darauf hinzuweisen, dass es viele Beispiele für ein friedliches und harmonisches Zusammenleben von Muslimen und Christen gibt, und es gilt, auf beiden Seiten Vorurteile und Misstrauen abzubauen.

 

Orientierung 2005-05; 15.11.2005

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