Im Koran werden biblische Prophetengeschichten in 412 Versen nacherzählt. Manchmal ähneln sie stark der biblischen Darstellung – und doch enthalten sie deutliche Verzerrungen. Woran liegt das? 

Art und Weise der Übernahme der Texte

Meist setzen koranische Geschichten, die wir aus der Bibel kennen, ein Vorwissen des Zuhörers voraus. Sie werden nur kurz angerissen. Einleitend heißt es dann zum Beispiel „gedenket“ oder „zu Ohren gekommen“ (Sure 20,9). Im Koran werden fast alle Orts- und Zeitangaben, viele Namen und historische Daten unterschlagen. Die 419 Bibelverse der Josefsgeschichte werden im Koran auf 111 Verse, also auf ein Viertel, reduziert. Die Sure 12 ist eine spätmekkanische Sure und stammt aus der Zeit, in der Mohammed in Mekka die stärkste Opposition bis hin zu Morddrohungen erdulden musste. Durch diese Geschichte will der Koranautor den Mekkanern klar machen, dass sie Mohammed doch noch anerkennen werden, wie Josef am Ende ja auch anerkannt wurde (Josef ist ein „Zeichen“ auf Mohammed hin – Sure 12,7). Die ersten drei und der letzte Vers der Sure 12 behaupten, die Geschichte sei eine schöne Erzählung, die in arabischer Sprache die biblische Handlung bestätigen soll. – Tut sie das?

Einige der Widersprüche

Der erste Traum Josefs von den Getreide-Garben der Brüder und Eltern, die sich vor der Garbe Josefs verneigen, wird in Sure 12 weggelassen. Die Sure erwähnt nur den zweiten Traum von den 11 Sternen, Sonne und Mond, die sich vor Josef verbeugen. Josef erzählt diesen auch nicht seinen Brüdern, sondern nur seinem Vater, der ihm verbietet, den Traum vor seinen Brüdern zu erwähnen. Dieser andere, freundlichere, ermutigende und sorgende Charakter Jakobs findet sich in jüdischen Midraschtexten, die 1.Mose 37,11 auslegen. – Josef erhält in der Zisterne, in die ihn die Brüder geworfen hatten, eine Offenbarung, dass er diese Ungerechtigkeit seinen Brüdern noch einmal vorhalten würde, wobei sie ihn dabei nicht erkennen würden (12,15). Diese koranische Behauptung soll ihn als Propheten bestätigen. Im Gegensatz zur Bibel lehnt es Jakob im Koran ab, an Josefs Tod zu glauben (37,35; 12,18). Auch Jakobs unerhört lange Trauer (37,34f) wird nicht erwähnt, da dies zu einem Propheten nicht passen würde. 

Josef in Ägypten

Ein Namenloser kauft Josef irgendwo in Ägypten. Entgegen dem biblischen Bericht will der Namenlose Josef sogar als Kind adoptieren (12,21). Im Koran wird die Schuld von Josefs Bruder Juda mit seiner Schwiegertochter Tamar in Genesis 38 ausgelassen. Solche Sünden passen erstens nicht zu Propheten und zweitens ist der Koranautor nicht an den Brüdern oder Israel interessiert. – Im Gegensatz zur Bibel begehrt Josef im Koran die Ehefrau (Potifars) ebenso wie diese ihn (12,24; 39,8.10). Aber Gott bewahrt ihn, indem er ihn ein übernatürliches Zeichen vom Herrn sehen lässt (12,24). Dieser einvernehmliche sexuelle Wunsch und das Zeichen finden sich auch in der Midraschauslegung zu 1.Mo 39,11. Das unterschiedliche Sündenverständnis von Bibel und Koran zeigt sich in Josefs Aussage in 1. Mose 39,9b: „Wie sollte ich dieses große Unrecht tun und gegen Gott sündigen?“ Der eigentliche Verführungsvorgang mit der Flucht Josefs, bei der er sein Gewand verliert (39,12), wird im Koran so dargestellt, dass beide zur Tür rennen und die Frau Josefs Gewand von hinten einreißt, was dem Ehemann ihre Schuld beweist, weil Josef offenbar flüchtete (12,28). Jetzt folgt ein koranischer Einschub (12,30-35), der wieder im Midrasch zu finden ist. Demnach bringt die Verführerin das Gerede der reichen Frauen über sie zum Verstummen, indem sie ihnen Josef vorführt und diese sich vor hingerissenem Staunen mit den Obstmessern in die Finger schneiden. Im Gefängnis landet er, aber nicht wegen vermeintlichem Ehebruch wie in der Bibel (39,19-20), sondern eben zur Sicherheitsverwahrung vor sexuellem Missbrauch, der von den Frauen ausgeht (12,35). – Der Dialog über die Träume von „Mundschenk“ und „oberstem Bäcker“ wird auf „zwei junge Männer“ reduziert. Es folgt eine Islampredigt Josefs gegen den Götzendienst, wie Mohammed sie nicht besser gehalten hätte (12,37-40). Der eine der jungen Männer wird im Koran gekreuzigt statt aufgehängt (40,22; 12,41). Josef gibt nun auf Empfehlung des Mundschenks die Deutung von Pharaos Traum noch aus dem Gefängnis. Als der König Josef zu sich ruft, lehnt Josef unverständlicherweise ab und will zuerst wissen, wie es den nach ihm süchtigen Frauen geht, die sich damals in die Finger schnitten. Unlogisch bleibt, wie er sich als Gefängnisinsasse dem Befehl des mächtigen Pharao widersetzen kann (12,50). Auf die Befragung durch den Pharao hin gibt die Ehefrau (Potifars) Josef die Ehre und bekennt, dass sie ihn verführen wollte (12,51). Josef hält als eine Moral aus der Geschichte eine Art islamische Kurzpredigt über Gottes Vergebung und die Bosheit der Frauen/Menschen (12,52-53). Das alles wirkt sehr gekünstelt und verbogen. Josef wird vom König auserwählt und schlägt plötzlich dem König vor, ihn selbst als Finanzminister über die Vorratskammern zu bestellen (12,55). Diese Eigenmächtigkeit kommt dem König indes gar nicht ungebührlich vor. Es folgt eine weitere islamische Kurzpredigt über Gottes Barmherzigkeit und den Lohn der Rechtschaffenen (12,56-57). Dass Josef sogar Stellvertreter Pharaos wird und riesige Mengen Getreide sammelt, eine heidnische Ägypterin heiratet, Kinder bekommt und in den Hungerjahren Getreide an alle Länder verkauft, fehlt im Koran (1.Mo 41,47-57).

Josef begegnet seinen Brüdern

Die misstrauischen Fragen Josefs bei der ersten Begegnung mit seinen Brüdern, die Spionagevorwürfe Josefs ihnen gegenüber, die drei Tage Gefängnis für die Brüder und die Festnahme Simeons als Pfand sucht man im Koran vergeblich (1.Mo 42,7-24; ab 12,58). Diese ungerechtfertigten Vorwürfe und Beugehaft würden einem Propheten im Koran nicht anstehen. Nein, im Koran preist sich Josef als guter Gastgeber (12,59). Der Ausgang der Geschichte bleibt für den koranischen Jakob absehbar. Der Koran ergänzt den Bericht, dass Jakob seinen Kindern befiehlt, bei ihrer zweiten Reise in die ägyptische Stadt Josefs durch verschiedene Tore einzutreten. Vermutlich geht es darum, dass nicht alle zugleich umkommen, falls es zu einem Angriff des Verwalters (Josef) kommen sollte (12,67). Dieses hinzugefügte Detail stammt aus dem jüdischen Midrasch. Das berauschende Festmahl wird unterschlagen, da dort Wein im Spiel ist (1.Mo 43,34). Dass Josef den Trinkbecher hinterlistig in die Tasche eines Bruders steckte (12,70), wird als List Gottes für Josef gerechtfertigt (12,76). Der Prophet muss immer gerecht dastehen. Als die Brüder auf der 3. Reise (Bibel: 2.) wieder vor Josef erscheinen, gibt dieser sich nun endlich zu erkennen (12,89-90). Jetzt folgt ein weiterer koranischer Einschub mit der Aufforderung Josefs an seine Brüder, ein Hemd von sich auf den erblindeten Vater Jakob zu legen, der dann sehend wird (12,93.96). Sofort will der koranische Jakob den Triumph wegen seines Vorwissens über die Errettung Josefs genießen (12,94-96; Bibel: Unglaube Jakobs: 1.Mose 45,26). Der Prophet darf sich nicht täuschen. Logischerweise fehlt die direkte Anrede Gottes an Jakob, in der Gott ihn ermutigt, nach Ägypten zu gehen und ihm verspricht, dass er seine Nachkommen eines Tages wieder nach Kanaan zurückbringen wird (1.Mo 46,1-4).  Im Koran lässt Josef seine Eltern auf dem Thron sitzen, die sich aber doch vor ihm niederwerfen (12,100). Der Koran unterschlägt das Gespräch zwischen Pharao und Jakob, sein Alter (130 Jahre) und seine Berufsbezeichnung (Hirte). Es folgt eine Hymne auf den mächtigen Schöpfer (12,101-102) und eine Islampredigt vom Feinsten, die Mohammed genauso an die Mekkaner gerichtet haben mag (12,103-110). Sie warnt vor dem Götzendienst und dem folgenden Gericht. Jakobs Segen und Tod, sowie auch Josefs Tod und seine letzten Worte (1.Mose 48-50) kommen im Koran nicht vor.

Fazit

Während die Josefsgeschichte in der Bibel ein wichtiges Glied in der Vätergeschichte ist (Abraham – Isaak – Jakob – Josef – Mose; der Umzug nach Ägypten eine Erfüllung der Prophetie Gottes an Abraham in 1.Mo 15,13: „400 Jahre“ in Ägypten) und damit nicht vernachlässigt werden kann, wird die Geschichte im Koran völlig aus ihrem Kontext gelöst. Die Bibel betont die geographische, historisch nachvollziehbare und theologische Seite, während der Koran nur seine islamisch-theologische Seite darstellt. Dementsprechend benützt der Koran die Bibeltexte, lässt Ereignisse wegfallen und nimmt Inhalte aus anderen Quellen auf (die Jesus Christus ablehnt: z. B. Mt 15,3.6). Viele koranische Abweichungen zur biblischen Geschichte lassen sich auf die jüdische Mischna (erste Niederschrift der mündlichen Thora; die Mischna bildet die Grundlage für den Talmud) und den Midrasch (jüdische Schriftauslegung) zurückführen. Damit wird aber im Koran die biblische Geschichte nicht bestätigt, sondern letztlich verfälscht.

 

Orientierung 2012-05; 01.12.2012

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