Normalerweise wünscht sich jedes muslimische Ehepaar Kinder. Sie gelten als Zeichen einer guten Ehe. Wird ein Kind in einer muslimischen Familie geboren, herrscht große Freude, die noch größer ist, wenn das Neugeborene ein Junge ist. Dem Kind wird schon bald nach der Geburt das islamische Glaubensbekenntnis ins rechte Ohr gesprochen: „Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet.“

Religiöse Erziehung

Wer in eine muslimische Familie hineingeboren wurde, gilt als Muslim. Dazu ist keine spätere „Bekehrung“, kein Bekenntnis oder eine ausdrückliche Erklärung des Kindes nötig. Es gibt auch keinen formellen Beitrittsakt zur islamischen Gemeinschaft, der etwa mit der christlichen Taufe vergleichbar wäre. Muslime gehen davon aus, dass der Islam die „natürlich Religion” eines jeden Menschen sei. In der muslimischen Familie geht es also „nur“ darum, den als Muslim Geborenen nun auch als Muslim aufwachsen zu lassen. Dazu gehört die – für traditionell geprägte Muslime selbstverständliche – religiöse Unterweisung des Kindes in der Familie und manchmal auch in der Koranschule. Religiöse Erziehung geschieht indirekt dadurch, dass das Kind mit islamischen Festen und Feiertagen, aber auch mit Speise- und Reinigungsvorschriften, mit der Trennung der Geschlechter und den vom Islam vorgegebenen Moralauffassungen aufwächst. Der Sohn wird vom Vater, die Tochter von der Mutter religiös unterwiesen, indem das Kind allmählich in die Glaubenspflichten des Islam (fünf Säulen) eingeführt wird. Dazu gehört vor allem das fünfmal täglich gesprochene rituelle Gebet. Man geht davon aus, dass ein Kind etwa mit sieben Jahren beginnen sollte, das Gebet zu verrichten. Mit zehn Jahren sollte es das Gebet beherrschen und auch vollziehen – natürlich in Abhängigkeit davon, wie streng die Familie selbst der Gebetspflicht nachkommt. Die Befolgung der fünf Säulen des Islam und insbesondere die Einhaltung der Gebete gelten für Männer und für Frauen als absolut verpflichtend. Das Gebet absichtlich zu versäumen, ist im Islam eine der schwersten Sünden. Und so verlangen muslimische Theologen, Kinder zur Not mit Schlägen zur Einhaltung der Gebetspflicht zu zwingen. Auch in das 30-tägige Fasten im Monat Ramadan wird das Kind Schritt für Schritt eingeführt. Beim ersten Mal fastet es vielleicht nur zwei bis drei Tage, beim nächsten Mal eine Woche. Ungefähr mit der Pubertät sollte es die ganze Fastenzeit einhalten. Besucht das Kind, frühestens ab etwa vier Jahre, die Koranschule, wird es dort vor allen Dingen den Koran auf Arabisch auswendig lernen. Es kommt vor, dass Kinder schon mit etwa 10-12 Jahren den gesamten Koran auswendig können, womit sie meist für ein theologisches Studium als prädestiniert gelten.

„Säkulare“ Schulbildung

In der Koranschule, aber auch in der säkularen Schule lernen Kinder in weiten Teilen der islamischen Welt vor allem durch Auswendiglernen und Wiederholen. Eigene Gedanken, Diskutieren, Hinterfragen oder sogar das Ablehnen des Lernstoffs sind in aller Regel nicht gefragt. Diese Lernmethode hat ihre letzte Ursache im Gottes- und Menschenbild des Islam: Gott muss nach islamischer Auffassung nicht verstanden, sondern vor allem angebetet werden. Es geht nicht darum, seinen Willen, sein Handeln zu hinterfragen oder zu diskutieren, sondern sich ihm und seinem Willen zu unterwerfen, die von Gott geforderten Pflichten einzuhalten und ihm Dank zu sagen für seine Wohltaten. Dem Menschen kommt es nicht zu, Gott und sein Wort, den Koran, in Frage zu stellen, kritische Gedanken dazu zu äußern oder zu überlegen, welche Anweisungen des Koran für heute in welcher Form gültig sein könnten. Darin liegt wohl auch ein Grund dafür, warum arabische Korankommentare in aller Regel sehr vorsichtig darin sind, eigenständige Beurteilungen von Koranversen vorzunehmen. Insbesondere in den klassischen Kommentaren werden einige altbekannte Meinungen nebeneinander gestellt, die den Text vorsichtig zu deuten versuchen. Aber es wird nur selten ein eigenständiges Urteil gefällt oder abschließend eine der Auslegungsmöglichkeiten klar favorisiert.

Vorbereitung auf das Leben als Mann und Frau

Mädchen werden in der islamischen Welt früh auf ihre spätere Rolle als Hausfrau und Mutter hin erzogen, Jungen auf eine Identifizierung mit der Welt des Vaters in der Moschee, der Öffentlichkeit und seinem Beruf. Auch diese Vorbereitung auf das Leben als Mann oder Frau gehört eigentlich zur religiösen Erziehung im Islam, denn die Aufgabenteilung und Geschlechtertrennung ist in der Religion verankert. Angemessenes, respektvolles Verhalten gegenüber Eltern, Älteren im Allgemeinen, von Frauen gegenüber Männern, Zurückhaltung im Umgang mit dem anderen Geschlecht und die Wahrung eines untadeligen Rufes für Mädchen und Frauen gehören zu den grundlegenden Erziehungsidealen im Islam. Sterben die muslimischen Eltern eines Kindes und ist z. B. der nächste Verwandte der Eltern Christ geworden, so wird die Verwandtschaft darauf bestehen, dass das Kind bei einem entfernteren Verwandten, aber auf jeden Fall in einer muslimischen Familie aufwächst.

 

Orientierung 2000-03/04; 15.09.2000

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