Die biblischen Texte sind im Rahmen von schamorientierten Kulturen aufgeschrieben worden, in denen das Ansehen einer Person eine zentrale Rolle spielt. Wie wird in einem solchen Kontext wohl das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32) verstanden? Martin Lomen zeigte in seinem Vortrag am Studientag (02.02.2008 in Wiesbaden), wie viel deutlicher einiges in Gottes Wort zu uns reden kann, wenn wir einmal versuchen, es „mit anderen Ohren” zu hören

 

Der Schock

Die Beziehung von Vater und Sohn war und ist im Orient von großer Bedeutung. Ein orientalischer Vater wird nach seinem Sohn benannt, z.B.: Abu-Martin. 50-jährige Söhne küssen die Hände ihrer alten Väter. 20-jährige lassen sich die Autoschlüssel von ihrem Vater wegnehmen, wenn dieser das gut findet. Da will sich Martin, der Sohn, sein Erbe auszahlen lassen. Das ist so, als ob er seinem Vater, Abu-Martin, sagen würde: „Ich wünschte, du wärst tot!” Das kann sich eigentlich keiner leisten; es ist völlig unvorstellbar. Ein ungehorsamer Sohn entehrt den Vater. So jemand müsste verdroschen, entehrt und als Sohn enterbt werden.

 

Schimpf und Schande für die ganze Familie

Doch der Vater Abu-Martin verkauft einige Äcker, um Geld flüssig zu haben und dem Sohn das Erbe auszuzahlen. Der Vater muss dazu auf den Markt gehen und es kommt heraus, warum er die Äcker verkaufen will. Welch eine Schande für den Vater! Denn die Leute können zwischen den Zeilen lesen und wissen genau, was sich da Unerhörtes abspielt. Der Sohn zieht ab und führt woanders ein Lotterleben ohnegleichen. Woanders wohlgemerkt, das erspart dem Vater, es mit ansehen zu müssen, und bringt weniger Schande als im eigenen Städtchen. Wenigstens das!

 

Die Wende

Abgebrannt und ausgebrannt kommt er wieder zurück – zum Vater Abu-Martin. Eigentlich müsste er als jüngerer Bruder erst den älteren Bruder kontaktieren. Es ist der Gipfel der Schamlosigkeit, den Vater Auge in Auge um Entschuldigung zu bitten. Lieber jemand anderen schicken, was ausdrücken würde, dass der Sohn seine Schuld und Schande begreift. Wenn jemand ausweicht, heißt das: er ist sich seiner Schuld bewusst. Doch vermutlich war die Beziehung zum älteren Bruder schlecht, und deshalb gibt es keinen Umweg über den Bruder.

 

Spießrutenlaufen

Der jüngere Bruder kommt in die Nähe seiner Heimatstadt. Kinder sehen ihn und bewerfen ihn mit Steinen. Leute spucken ihm ins Gesicht und rufen: „Ayip!” (d.h. abscheuliche Schande). Ein Spießrutenlauf hat begonnen. Der Vater sieht ihn von Ferne. Orientalen rennen nie. Wenn jemand rennt, ist es entweder ein Dieb oder jemand, der einen Dieb jagt. Wer rennt, ist nicht der Ehre würdig. Das richtige Benehmen ist wichtig für den Status. Kleidung, Aussehen, Körperhaltung und Gebärden kommunizieren, ob jemand auf sein Ansehen achtet. Nur nicht zu schnell lächeln!
Der Vater vergisst alle Ehre und rennt. Er rennt! Entblößt einen Teil seines Körpers, indem er sich das Gewand hoch gürtet und seinem Sohn entgegen rennt. (Die einzige Stelle in der Bibel, in der Gott rennt!) – Der Vater sieht den Sohn gedemütigt mitten in der Ortschaft. Er stellt sich schützend vor ihn und umfasst ihn. Er schützt ihn vor Blicken und Steinen. Die Ortsansässigen müssen denken: dem Abu-Martin muss eine Sicherung durchgebrannt sein. Sie verachten jetzt auch den Vater. Er verstößt gegen die Kultur.

 

Äußerlichkeiten zeigen ganze Annahme

Schande braucht nicht nur Vergebung, sondern auch Annahme! Der Vater küsst den Sohn, den stinkenden, verlausten Sohn. Männer küssen sich im Orient, ja, das ist ein Ausdruck für Annahme und Freundschaft. Untergebene werden nicht geküsst. Der Vater hört zu, als der Sohn ihm seine Schuld bekennt; aber dass er den Sohn zu einem Tagelöhner „degradieren” und damit die Vater-Sohn-Beziehung aufkündigen soll, das will er gar nicht hören. Sofort muss das beste Kleid und ein Ring her. Es geht nicht nur um Vergebung der Schuld, sondern er wird wieder in den alten Status als Sohn eingesetzt. Das geschieht durch diese „Äußerlichkeiten”.

 

Zählt Geld oder Ehre?

Fleisch gibt es nur zu besonderen Anlässen im Orient, zum Beispiel als Zeichen der Gastfreundschaft für einen Ehrengast. Da gilt es großzügig zu sein. Ein ehrbarer Mann ist immer großzügig und gastfreundlich. Es muss 50% mehr Essen auf dem Tisch stehen, als gegessen wird. Doch beim Einkaufen wird geizig gehandelt, „bis die Tränen kommen”. Da gibt es keine Großzügigkeit für den, der etwas auf sich hält. Hier gilt es stark und nicht gutmütig zu sein. Andere „auszuziehen” und sich zu behaupten, bringt Ehre, Status und Achtung ein. Selbst diejenigen, die man durch Handeln in die Knie zwingt, zollen einem dann Ehre. Anschließend kann man jemanden einladen und großzügig spendieren. Hart und klar andere herunterhandeln. Großzügig sein nach dem Handel. Es geht nicht ums Geld, es geht um die Ehre!

 

Verlorene Ehre Gottes?

Gott lässt sich im Gleichnis vom verlorenen Sohn von Anfang an konsequent demütigen bis zum Schluss. Alles nur, um einen seiner Söhne zurückzubringen!
Der Vater steht während des Festes auf, um mit dem älteren Sohn zu sprechen. Eine Schande! Der Gastgeber steht nicht auf während des Festes. Eigentlich hätte der Vater sofort seine Knechte zum älteren Sohn schicken müssen. Sie hätten ihn festgenommen und nach dem Fest ordentlich für seine Nichtbeachtung des Vaters verdroschen. Dann wäre die Ehre des Vaters wiederhergestellt. Doch auch hier will der Vater den zweiten verlorenen Sohn zurückgewinnen.
Der Vater entehrt sich für alle, um uns zurückzugewinnen. Das ist die Botschaft, die für orientalische Ohren durch dieses Gleichnis kommuniziert wird. – Es wurde von dem erzählt, der „die Schande nicht achtete und das Kreuz erduldete und sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes” (Hebr 12,2).
Orientierung 2002-05; 15.02.2008

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