Manche Gespräche mit Muslimen ließen bei mir ein Gefühl der Verwirrung zurück. Das hatte sicherlich damit zu tun, dass meine Gesprächspartner manches in einen ganz anderen Rahmen einordneten, als ich es gewohnt bin

Immer wieder einmal begegnete ich einem deutlichen Überlegenheitsgefühl. Es schien darin begründet zu sein, dass Muslime meinten, im Islam gebe es klarere Gesetze als im Christentum. Der Islam biete ein umfassendes System, das für alle möglichen Situationen festlegt, was Muslime tun dürfen (helal) und was nicht (haram). Sie schienen stolz darauf zu sein, im Islam einen festen Rahmen zu haben, der ihnen Halt gibt. – Freiheit für individuelle Entscheidungen – für uns von großer Bedeutung – schien ihnen gar nicht so erstrebenswert zu sein.

Auch ihr Empfinden, was nun eigentlich gut oder böse sei, schien mir z. T. merkwürdig fremd. Wenn im Fernsehen Bilder vom Gebet in einer Moschee gezeigt wurden, konnten fast unmerkliche Fehler in der Gebetshaltung kritisiert werden; aus unserer Sicht unmenschlich harte Strafen schienen andererseits fraglos akzeptiert zu werden. – Gottes Gebote scheinen eher im Sinn von Vorschriften verstanden zu werden: In einem Land wird bestraft, wer mit dem Auto links fährt, in einem anderen Land, wer rechts fährt. Das hat wenig damit zu tun, dass etwa rechts zu fahren an sich gut oder böse wäre. Damit es im Straßenverkehr nicht das totale Chaos gibt, müssen eben Regeln angeordnet werden. Vorschriften im Koran sind nun mal Vorschriften, und werden von Muslimen in der Regel nicht hinterfragt. Deshalb können konsequente Muslime Dinge tun, die im Koran oder Islam befohlen sind – selbst wenn sie so schlimm sind wie zum Beispiel das Töten von „Abtrünnigen“, sogar in der eigenen Familie.

 

Was mir außerdem zunächst schwer verständlich war: Das Überlegenheitsgefühl schien nicht unbedingt im persönlichen Verhalten begründet zu sein. Ich begegnete ihm auch bei Leuten, die keine praktizierenden Muslime waren, die nicht regelmäßig beteten etc. Vielleicht ist es begründet im Bewusstsein der Zugehörigkeit zur islamischen Gemeinschaft (Umma). Allah hat ihr ja nach Muhammad zugesagt: „Ihr (Gläubigen) seid die beste Gemeinschaft, die unter den Menschen entstanden ist (w. die den Menschen hervorgebracht worden ist). Ihr gebietet, was recht ist, verbietet, was verwerflich ist, und glaubt an Gott. Wenn die Leute der Schrift (ebenfalls) glauben würden (wie ihr), wäre es besser für sie. Es gibt (zwar) Gläubige unter ihnen. Aber die meisten von ihnen sind Frevler.“ (Sure 3,110; Übersetzung von Paret) – So steht die islamische Welt, von Muslimen aus gesehen, einfach besser da. Auch wenn man sich nicht zu den eifrigsten und hingegebensten Mitgliedern dieser Gemeinschaft rechnet, man kann stolz darauf sein, dazu zu gehören. – Vielleicht hilft ein Vergleich zum besseren Verstehen: Wenn die deutsche Fußballmannschaft  die Weltmeisterschaft gewinnt,  gibt mir das ein gutes Gefühl. Ich freue mich und bin sogar ein bisschen stolz, obwohl ich mich eigentlich nicht sehr für Fußball interessiere und schon seit Jahren nicht mehr Fußball gespielt habe. „Wir haben gewonnen!“  Noch etwas war und ist für mich immer wieder verwirrend: Einerseits wird der Islam hoch gehalten und das islamische Gesetz gepriesen – andererseits scheinen selbst manche Muslime, die stolz auf ihre Religion sind, sich wenig Mühe zu geben, die Vorschriften zu erfüllen. Ein Algerier sagte sogar einmal: „Als Muslim darf ich Vorschriften übertreten, solange ich noch anerkenne, dass es Vorschriften Allahs sind.“ Nach islamischem Verständnis verliert ein Muslim nicht seine Zugehörigkeit zur islamischen Gemeinschaft, wenn er Gebetszeiten ausfallen lässt oder im Fastenmonat heimlich etwas isst; wenn Missbrauch in der Familie geduldet oder heimlich Alkohol getrunken wird. Zum Vergleich: Wenn jemand bei roter Ampel über die Kreuzung fährt, verliert er ja auch nicht gleich seine Staatsbürgerschaft!

Die Bibel geht von ganz anderen Denkvoraussetzungen aus. Da reicht es, eines der Gebote Gottes zu übertreten, um die Beziehung zu dem heiligen Gott zu zerstören und unter die Herrschaft der Sünde zu kommen! Das schönste ethische System hilft uns nicht gegen unseren menschlichen Egoismus. Es braucht die innere Erneuerung durch Gott. Deshalb reicht es nicht, ethische Fragen zu erörtern: was denn nun konkret der Wille Gottes in allen möglichen Situationen sein könnte – weil zuerst der Sünder zu Gott eingeladen werden muss. Erst durch eine neue, versöhnte Beziehung zu Gott ergibt sich auch ein neues Verhalten. Und für eine solche Umkehr zu Gott muss ich mich ganz persönlich entscheiden. Da ist es nicht entscheidend, ob ich in einer frommen Familie aufgewachsen bin, ob ich zu einer guten Kirchengemeinde oder christlichen Organisation gehöre, und schon gar nicht, ob ich Bürger im christlichen Abendland bin.

Menschen sind vom Islam angezogen, weil dort anscheinend klare Regeln alles ordnen (auch wenn es heißt: „Gott will es dir ja nicht schwer machen“ und es viele Ausnahmeregelungen gibt, z. B. Ersatzleistungen, wenn nicht gefastet wurde). „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2. Kor 5,20) wird im Islam nie gesagt.

Orientierung 2011-04; 01.09.2011