Belastungen und Stress, die Migranten haben, sind anders als bei Einheimischen. Worunter leiden sie in einer fremden Umgebung? Unbewältigter Stress macht krank. Hier die Ergebnisse mehrerer Studien, Impulse und Fragen, um Migranten etwas besser zu verstehen

 

Vielleicht haben Sie folgenden Satz schon einmal gehört: „Die sind hier in Deutschland, die sollen sich bitteschön integrieren!“ Dahinter steht die Einstellung, Migranten sollten sich uns so schnell wie möglich anpassen. Und in der Tat scheinen manche auch nach Jahren wenig Bereitschaft zu zeigen, wenigstens gut Deutsch zu lernen. Doch wie ist es z. B. mit der Sprache, wenn jemand als Erwachsener hergekommen ist, lernen will, sich aber wegen vieler anderer Schwierigkeiten kaum etwas merken kann? Oder wenn Migranten gewohnt waren, auch fremde Personen anzusprechen, sie hier aber auf Menschen treffen, die abweisend reagieren? Der Blick ist ja in der Regel das erste Wahrnehmen einer Person – was lesen Migranten in unserem Blick? Lebt seit kurzer Zeit eine Frau oder eine Familie mit ihren Heranwachsenden hier, könnte die Angst groß sein, dass ihre Töchter zur Unmoral verführt werden. Manche Migranten sind in der Hoffnung hierhergekommen, bessere Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten zu finden. Hoffnung auf etwas mehr Glück, mehr Sicherheit und Zufriedenheit. Und gehörten sie in ihrer Heimat einer Kirche an, dann besteht eine gewisse Erwartung, hier bei Christen Offenheit, Annahme und Verständnis zu finden.

Beschäftigte mit Migrationshintergrund sind größeren körperlichen und seelischen Belastungen ausgesetzt und deshalb häufiger krank. Zu diesem Ergebnis kommt eine AOK-Studie durch Befragung in 500 Unternehmen. Helmut Schröder, ein Mitherausgeber des Reports erklärt: „In den letzten Jahren nehmen psychische Erkrankungen kontinuierlich zu“. Aus dem Integrations-Indikatorenbericht der Bundesregierung geht hervor, dass in Deutschland lebende ältere Migranten häufiger krank sind als Senioren ohne Migrationshintergrund. Der Indikatorenbericht untersuchte den Stand und den Verlauf der Integration in Deutschland in den Jahren 2005 bis 2007. Er wurde unter wissenschaftlicher Leitung des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik in Köln und des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung Berlin erstellt. – In scheinbarem Widerspruch dazu: Menschen mit Migrationshintergrund sind in Deutschland weder öfter noch seltener krank als der nicht zugewanderte Bevölkerungsteil. Zu diesem Ergebnis kommt der umfassende Bericht zum Thema «Migration und Gesundheit in Deutschland», den Gesundheitswissenschaftler der Universität Bielefeld im Auftrag des Berliner Robert Koch-Instituts herausbrachten. Allerdings verhielten sich Migranten in manchen Bereichen vernünftiger, beispielsweise beim Alkoholkonsum; ein schützender Faktor findet sich auch beim günstigeren Stillverhalten von Müttern. Zuwanderer bauten zudem oft soziale Netzwerke auf, die gesundheitsfördernd wirken könnten.Anderswo hätten sie dagegen erhöhte Gesundheitsrisiken. Überdurchschnittlich hoch ist unter Migranten in Deutschland die Säuglingssterblichkeit. Auch einige Infektionskrankheiten wie Tuberkulose kommen häufiger vor sowie Erkrankungen durch psychosoziale Belastungen infolge der Trennung von der Familie oder politischer Verfolgung im Herkunftsland. (Studie unter: www.rki.de / Gesundheitsberichterstattung) Die scheinbar unterschiedlichen Ergebnisse obiger Studien lassen sich also erklären.

In der Migrantenambulanz einer Klinik in Deutschland sammelt der Arzt Dr. Murat Ozankan seine Erfahrungen und fragt: Sind Migranten anders krank? Er stellt fest, dass sich Patienten häufig in schwierigen sozialen Konstellationen befinden und über das Auftreten körperlicher Beschwerden ohne eindeutig nachweisbaren körperlichen Befund klagen. Empfunden wird z. B. ein ausgeprägtes Engegefühl im Brustkorb, das sowohl seelische Belastung als auch Trauer bedeuten kann. Da die Medizin im Orient keine Trennung von Psyche und Soma (Körper) praktiziert, wie es im Westen der Fall ist, wird häufig eine körperlich-seelische Unbehaglichkeit geäußert, eine ganzheitliche Befindlichkeitsstörung. Es werden öfter allgemeine Umschreibungen wie Erschöpfungs- und Verstimmungszustände oder Schmerzzustände vorgetragen. Es handelt sich z. T. um bereits über mehrere Jahre chronisch verlaufende psychosomatische Erkrankungen. Nicht nur unterschiedliche Krankheitsverständnisse und -konzepte, auch unterschiedliche Vorstellungen in der Behandlung und vor allem im Umgang mit dem Kranken können zu Missverständnissen, Befremden und Ablehnung führen.

In der Zeitschrift psychoneuro 2003 wird zu Krankheitsursachen gesagt, „mediterrane Patienten betrachten die Krankheit häufig als etwas, das in den Körper eindringt und Besitz von ihm ergreift. Übernatürlich orientierte Erklärungs- und Handlungsmuster sind bei ihnen nicht selten anzutreffen. Magische Vorstellungen bilden Erklärungsmodelle für Störungen im Verhältnis zu den Mitmenschen. So können z. B. Böser Blick, Verzauberung, Besessenheit, Verwünschung mit dem Gefühl der Bedrohung einhergehen. Zudem können diese Patienten die Unfähigkeit aufzeigen, sich gegen andere abzugrenzen. Das Tragen von blauem Auge bzw. blauem Stein oder von Amuletten sind Versuche, den Bösen Blick, die Verzauberung oder die Verwünschung aufzulösen, abzuwenden oder ihnen vorzubeugen.“ Neben der Krankheitsentstehung ist in islamischen Kulturen auch die Interpretation und Sinngebung einer Krankheit wichtig. Zwei wesentliche Sinndeutungen lassen sich hier erkennen: Krankheit als Prüfung Gottes und Krankheit als Möglichkeit, Sünden vor Gott abzutragen, vergeben zu bekommen.

Einige Stress-Faktoren in Stichpunkten:

Ungewohntes Klima, ungewohnte Nahrungsmittel, fremde Sitten etc. sind oft auch nach vielen Jahren noch belastende Faktoren.
Manche leiden unter Traumatisierung, da sie im Heimatland verfolgt wurden oder Gewalt erlebt haben.
Der Familien-Nachzug erfolgt oft in Etappen. Das führt zu familiären Konflikten wegen mehrjähriger Trennung der Kinder von den Eltern. Kinder bleiben oft noch eine bestimmte Zeit in der Heimat bei Verwandten und erleben dadurch einen Wechsel der Bezugspersonen, was natürlich die Eltern-Kind-Beziehung belastet.
Da die Eltern oft im Erlernen der Sprache des Landes langsamer sind, haben sie kaum Möglichkeiten, ihren Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen.
Leider finden manche Migranten-Familien nur eine Wohnung in „ethnischen Ghettos“ oder in sozialen Brennpunkten einer deutschen Stadt. Ungünstige Arbeitsbedingungen bzw. zeitweilige Arbeitslosigkeit lassen keine besseren Wohnmöglichkeiten zu.
Bei Drogenproblemen ihrer Kinder versuchen besonders türkische Familien, diese innerhalb der Familie zu lösen, um ihr gesellschaftliches Ansehen zu schützen. Das Unverheiratetsein wird oft als Ursache für das Fehlverhalten eines jungen Menschen betrachtet.
Viele Migrantenfamilien vermitteln ihren Kindern und Jugendlichen die Normen und Werte ihres Herkunftslandes. In der Schule, Freizeit und Arbeitswelt übernehmen die Heranwachsenden parallel die westlichen Werte, die individualistischer orientiert sind. Dies führt oft zu inneren Spannungen.
Schlechtere Qualifikation in Schule und Beruf – was übrigens nicht immer Schuld der Migranten ist. Manche haben wenig Perspektiven für die Zukunft.

Vielleicht urteilt mancher Einheimische zu schnell, ohne sich mit den tatsächlichen ihm unbekannten Stressfaktoren von Migranten näher befasst zu haben. Wäre es nicht richtiger, sich erst in deren Situation hinein zu versetzen? Dann würde sicherlich mancher in seiner Haltung Migranten gegenüber verständnisvoller und barmherziger sein. Als Christen halten wir uns stets vor Augen, welches Erbarmen Gott mit uns hatte und hat.

 

Orientierung 2010-04; 25.09.2010

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